«Kinder in Institutionen früh zu fördern, hilft vor allem dann, wenn sie sozial benachteiligt sind», sagt Margrit Stamm.
wir eltern: Frau Professorin Stamm, haben Sie den «Orientierungsrahmen für die frühkindliche Bildung in der Schweiz» gelesen? Margrit Stamm: Ja, wir haben ihn genau studiert. Es ist ein sehr wertvolles Papier. Ein Grundlagenwerk.
Hilft dieses Papier den Kleinkinderzieherinnen, Tageseltern oder überhaupt Eltern in ihrem Alltag? Um diese 70 Seiten zu verstehen, muss jemand gut gebildet sein. Personen ohne akademischen Hintergrund wird das Werk vermutlich weniger ansprechen. Entscheidend ist deshalb, wie es im Alltag umgesetzt wird und ob es gelingt, die Theorie so herunterzubrechen, damit sie praxistauglich wird. Auch die Höheren Fach- und Berufsschulen werden daran interessiert sein.
Deckt sich der Inhalt mit Ihren Erkenntnissen und Auffassungen? Im Allgemeinen ja, als Orientierungshilfe für frühkindliche Betreuung, Bildung und Erziehung entspricht er dem State of the Art. Was das Werk aus meiner Sicht zu wenig berücksichtigt, sind die unterschiedlichen sozialen Milieus, in denen Kinder hierzulande leben: Ein Mittelstands- oder Oberschichtkind, das im Einfamilienhaus im verkehrsberuhigten Quartier aufwächst, hat ganz andere Voraussetzungen als das Albanerkind aus dem Block in Spreitenbach. Nicht jedes Kind ist in der Lage, aus eigenem Antrieb zu lernen und seine Umgebung selbstgesteuert zu gestalten. Benachteiligte Kinder müssen stärker als andere befähigt werden, damit sie von sich aus Neugierde entwickeln.
Führt es zu mehr Chancengleichheit in der Schule, wenn unsere Gesellschaft die frühe Kindheit pädagogisch aufwertet? Das wird überall postuliert. Die frühkindliche Bildung als das Mittel zu preisen, um bisherige Ungleichheiten aufzuheben, ist aber aus meiner Sicht eine zu starke Forderung, ja gar eine Ideologie. Das Ziel sollte vielmehr lauten, Benachteiligungen so zu verringern, dass die soziale Herkunft nicht mehr eine solch massgebende Rolle spielt wie bis anhin. Aber die totale Startchancengleichheit kann es nicht geben, denn jedes Kind ist anders: Es gibt Langsam- und Schnellentwickler, Gescheite und weniger Gescheite. Die wird es auch in Zukunft geben.
Was bedeutet die ganze Bildungsdiskussion für Eltern, die ihre Kinder in den ersten vier Jahren traditionell zu Hause erziehen? Verstehen Sie, wenn sich manche bedroht fühlen? Ich verstehe das sehr gut. Die Diskussion ist zu stark ausgerichtet auf die anteilmässig wenigen Paare, die beide Vollzeit arbeiten, während die traditionelle Sicht fast belächelt wird. Man muss betonen: Der Begriff der frühkindlichen Bildung meint auch die Förderung in der Familie selbst, egal, welches Modell sie lebt. Dieser Gedanke geht oft etwas unter. In der Schweiz nutzt fast ein Drittel aller Eltern keine institutionelle Betreuung, und die übrigen nutzen sie massvoll, das heisst, sie bringen ihre Kinder an ein oder zwei Tagen pro Woche in die Kita.
Es gibt Stimmen, die für alle Kinder ab dem zweiten Lebensjahr das Recht einfordern, täglich kostenlos eine Kita zu besuchen. Wie beurteilen Sie dies? Die Gratiskita für alle ist nicht realistisch. Aber: Die institutionelle Frühförderung sollte für diejenigen Kinder nichts kosten, die es am nötigsten haben; der Kitabesuch sollte für sie sogar Pflicht sein. Die Frage ist nur: Wie bringt man diese Kinder dorthin? Heute fallen sie durch die Maschen, denn in den Kitas sind vor allem Mittelschichtkinder. Und diese Mittelschicht wirft sehr viel Geld auf, um zwei Tage pro Woche arbeiten und die Kita bezahlen zu können.