Elternkolumne
Warum es Zeit für eine Bewegung gegen Gewalt an Kindern ist
Echt jetzt! Kolumnistin Ellen Girod versteht nicht, warum es in der Schweiz kein Gesetz gibt, das Gewalt gegen Kinder verbietet.
Ellen Girod (34) hat zwei Töchter im Alter von 4 und 2 Jahren und lebt in Zürich. Auf chezmamapoule.com engagiert sie sich für mehr Respekt für Kinder.
Petition «Gewaltfreie Erziehung».
«En Tätsch uf de Arsch, das tuet de Fraue mängisch guet!» Stellen wir uns vor, ein Politiker würde so was sagen. Der Aufschrei wäre riesig. Zu Recht! Die Parteileitung würde sich in aller Öffentlichkeit für den Fauxpas entschuldigen und sich von seinem Mitglied distanzieren. Der Politiker selbst müsste sein Pult räumen. Zurücktreten. Tatsächlich sagte ein Politiker so etwas, mit dem kleinen aber feinen Unterschied: Statt von «Frauen» sprach er von «Kindern». Der Aufschrei blieb aus. Der Herr politisiert nach wie vor in Bern. Dabei verteidigt er Körperstrafen in der Erziehung. Zur besten Sendezeit. Auf TeleZüri. In der Schweiz – einem eigentlich fortschrittlichen Land. Im 21. Jahrhundert. Und ich frage mich, müssen wir heute ernsthaft darüber diskutieren, ob wir Kindern wehtun dürfen? Wie können wir Gewalt an Erwachsenen verpönen und bestrafen, gegenüber Kindern aber legitimieren und beschönigen? Wenn Gewalt Erwachsenen schadet, dann schadet sie Kindern doch noch viel mehr! Weil sie eben Kinder sind – ergo klein, wehrlos und von uns lernen.
Der besagte Politiker wetterte dabei gegen die Onlinepetition «Gewaltfreie Erziehung»: Eine Petition, die Körperstrafen und psychische Gewalt an Kindern im Zivilgesetzbuch (ZGB) verbieten will. Denn in der Schweiz fehlt dieses Gesetz. Wir sind ein politisches Schlusslicht, ähnlich wie damals beim Frauenstimmrecht, als wir die Letzten waren, die es annahmen. Und erschreckend ähnlich wird über gewaltfreie Erziehung politisiert. Dass ein neues Gesetz gar nicht notwendig sei, sagten auch schon die Gegner vom Frauenstimmrecht. Und warnten vor den schlimmen Folgen – genau wie heute mit vermeintlich negativen Konsequenzen des Gesetzes für gewaltfreie Erziehung argumentiert wird. Dabei sehen wir die echten Folgen dieses Gesetzes in Deutschland, wo es seit 2000 gilt. Stieg die Kriminalisierung von Eltern – wie das hierzulande befürchtet wird – an? Nein. Dafür sank die gesellschaftliche Zustimmung für eine Ohrfeige für Kinder innert zehn Jahren von 60 auf 20 Prozent.
Dass wir noch kein Gesetz haben, ist einfach nur peinlich. Ermahnten uns die Vereinten Nationen doch mehrmals: Ohne dieses Gesetz verstossen wir gegen die von der Schweiz unterzeichneten Kinderrechtskonvention. Wichtiger noch: Etliche Studien zeigen auf, dass geschlagene Kinder später eher selbst zuschlagen. Und dass 42 Prozent der Schweizer Jugendlichen in ihrer Kindheit zu Hause geohrfeigt wurden. Gewaltvolle Erziehung ist also Realität. Und hat Folgen für unsere Gesellschaft. Währenddessen in Bern: «Alles halb so wild! Gewalt an Kindern geht natürlich gar nicht, aber so ein Klaps hat noch keinem geschadet», so die Mehrheit unserer Politiker und Politikerinnen. Es ist fast so, wie wenn einer sagen würde: «Frauen vergewaltigen geht gar nicht, aber ein bisschen küssen und grabschen, das passt schon.»
«Am besten ist, Frauen regieren zu Hause, die haben nichts zu politisieren.» Solche Aussagen finden wir heute im historischen Dossier des SRF. Bleibt zu hoffen, dass es unser «Tätsch uf de Arsch...»-Polemiker ebenfalls ins historische Archiv schaffen wird. Denn ja, Elternsein ist alles andere als einfach. Kann ich als zweifache Mutter gerne bestätigen. Aber nur weil wir Eltern überfordert sind, dürfen wir das nicht an den Kindern auslassen. Dazu kommt: Gewalt in der Erziehung ist alles andere als zielführend. Oder mit Astrid Lindgren Worten: «Man kann in Kinder nichts hineinprügeln, aber vieles herausstreicheln.» Leider sind Ohrfeigen in unserem Land nach wie vor salonfähig. Und das muss sich subito ändern. Genau wie beim Frauenstimmrecht geht es bei der gewaltfreien Erziehung um nichts Grundlegenderes als Menschenrechte. Und genau wie damals die Frauen nicht über ihre Rechte abstimmen konnten, können heute Kinder keinen Einfluss auf dieses Gesetz nehmen. Lange wurde über Gewalt an Frauen gesprochen. Es wäre an der Zeit über Gewalt an Kindern zu reden. Und ein starkes Zeichen dagegen zu setzen. Ein #Metoo für Kinder? Das wäre doch was!