Kinder erweitern den Horizont – vor allem den nachbarschaftlichen. Unser Kolumnist Patrik Müller durchleuchtet die sozialen Werteverschiebungen, die er als Vater erfährt.
Seit ich von zu Hause ausgezogen bin, haben mich die Nachbarn nie wirklich interessiert. Wir haben uns freundlich gegrüsst, wenn wir uns beim Zeitungholen oder Kehrichtsack-Herausstellen begegnet sind. Mehr nicht. Denn entweder hielt ich mich in der Wohnung auf, oder ich ging eiligen Schrittes Richtung Bahnhof. Was rund um uns herum geschah, nahm ich kaum zur Kenntnis. Das hat sich vor fünf Jahren schlagartig geändert. Leute, von denen ich zuvor nicht einmal wusste, dass sie neben uns wohnen, kenne ich jetzt nicht nur mit Namen, sondern wir laden uns gegenseitig zum Essen ein und gehen zusammen in den Zoo. Der Grund ist einfach: Vor fünf Jahren kam unser erstes Kind zur Welt, und das hat, wie so vieles, auch unser Quartierleben verändert. Es begann schon mit den ersten Spaziergängen mit dem Kinderwagen. Noch so gerne hielt ich an, wenn mich auf der Strasse jemand ansprach: «Mädchen oder Bub?» Als Vater hat man, zumal beim ersten Kind, einen unbändigen Stolz und freut sich über so banale Dinge wie ein «Jöö, so herzig» oder eine nette Bemerkung zum gewählten Vornamen. Wo ich früher, ohne Kinderwagen, beschleunigte oder geschäftig das Smartphone hervornahm, um keine Zeit mit Plaudereien zu vergeuden, bremste ich nun gern ab, um ein Kompliment für den Nachwuchs zu erhaschen. Und schon war man im Gespräch. Ab diesem Moment grüsst man sich nicht nur beim Zeitungholen oder Kehrichtsack-Herausstellen, sondern bleibt stehen, wenn man sich im Coop begegnet, oder setzt sich ins gleiche Zugabteil, wenn man sich auf dem Perron sieht. Man diskutiert über das, was in der Zeitung steht, oder über den Fussballmatch von gestern. Und über die Kinder. Wobei deren Bedeutung als Gesprächsthema mit der Zeit eher kleiner wird.
Ich weiss nicht, wie gut Nachbarschaftsbeziehungen wissenschaftlich erforscht sind. Ich würde als Laienforscher zwei Phasen unterscheiden: Zuerst geht es fast nur um die Kinder. In den Gesprächen, aber auch organisatorisch: Man fragt, ob die Nachbarn die Tochter mal eine Stunde hüten können, oder man regelt, wie sich die Kinder gegenseitig abholen, wenn sie in den Kindergarten gehen. Dann kommt, vielleicht, Phase zwei: Man findet die Nachbarn auch abgesehen vom Praktischen interessant und redet über ähnliche Dinge wie mit guten Arbeitskollegen oder alten Schulfreunden. Phase zwei setzt voraus, dass die Nachbarn spannende Menschen sind. Und da haben wir Glück. Mit einem Nachbarn habe ich abgemacht, dass wir einmal im Monat zu zweit in eine Zigarrenbar gehen (leider hat es bisher erst einmal gereicht). Auch verbrachte ich mit ihm und seiner Tochter schon ein Väter-Kinder-Wochenende in den Bergen. Mit Gesprächen an der Hotelbar bis nach Mitternacht. Mit einem anderen Nachbarn, der wie ich am Montag frei hat, habe ich schon Ausflüge unternommen und Kaffeekränzli im Manor-Restaurant abgehalten. Ich staune über mich selbst, wenn ich das feststelle, denn eigentlich war mein Interesse, neue Leute in meinen Bekanntenkreis aufzunehmen, schon seit einigen Jahren sehr klein. Da sind genügend Verwandte, langjährige Freunde, Schul- und Arbeitskollegen, für die ich schon zu wenig Zeit hatte – das reichte. Dachte ich. Bis vor fünf Jahren. Früher hatte ich kaum bemerkt, wenn ein Nachbar weg- oder zugezogen war. Als aber vor wenigen Tagen die einen Nachbarn wegzügelten, fand ich das sehr schade: Wir hatten so viele schöne Stunden mit unseren Familien verbracht und mal bei ihnen, mal bei uns gemeinsam gegessen. Nun steht die Wohnung leer, bald ziehen die nächsten Mieter ein. Wie ich gehört habe, haben sie ein kleines Kind.
Patrik Müller
Patrik Müller (39) ist Chefredaktor der «Schweiz am Sonntag». Er lebt mit seiner Partnerin und den drei gemeinsamen Kindern (5-, 3- und 1-jährig) in Baden.
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