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Aus Nesthäkchen wird grosser Bruder

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zvg
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Ist das wirklich mein kleiner Theo? Dieses grosse Kind, das mit seinen riesigen Pranken den Kopf seiner sehr winzigen Schwester streichelt. Das kann ja wohl überhaupt nicht sein! Ist aber so.
Zugeben: Mit seinen anderthalb Jahren gehört Theo zu den grössten und schwersten seiner Altersklasse und geht körperlich manchmal als Dreijähriger durch. Das liegt daran, dass wir ihn verhungern lassen – zumindest muss es sich seinem Appetit nach so für ihn anfühlen. Der Junge kriegt einfach überhaupt nie etwas zu essen. Im Sinne von: Morgens, gleich nach dem Aufstehen, wird eine halbe Gurke, ein ganzer Apfel, zwei Karotten und ein Müsli eingeatmet, bevor man sich sehr vehement bis verzweifelt danach erkundigt, ob es hier denn auch mal was zu essen gibt. Er hat ständig Hunger, sein Lieblingswort ist «Nachnüsch» (Nachtisch) und wenn man ihn hochhebt hat man den Eindruck, als würde man einen schweren Sack hochwuchten.
Aber erst seit Maja da ist. Und das, obwohl er mit ihrer Geburt nicht übermässig zugelegt hat. Nein, der direkte Vergleich macht es. Mit ihrer Geburt hat Maja wieder die Kategorie des absoluten Fliegengewichts eingeführt und somit ist Theo nicht mehr der leichteste. Er ist auch nicht mehr der kleinste und der jüngste. Und das macht etwas: Mit ihm, mit uns, mit der ganzen Familiendynamik. Plötzlich erhebt jemand anderes den Hauptanspruch auf Mamas und Papas Arm. Die ersten Tage nach Majas Geburt hat Theo immer dann besonders nachdrücklich gefordert, auf den Arm genommen zu werden, wenn der Platz schon besetzt war. Aber nicht nur um die vormalige Stellung in der Familie muss gerungen werden, sondern auch um die Beziehung zum neuen Geschwisterchen. Ständig haben alle anderen Familienmitglieder das Baby auf dem Schoss und man selber nicht. Das kann ja wohl nicht sein.
Recht hat er! Also versuchen wir, Theo so oft wie möglich die Kleine mit etwas Hilfe auf den Schoss zu setzen. Übrigens nicht nur, wenn sie gut drauf ist. Das wäre ja wieder eine Art Ausschluss, wenn sie bei allen anderen auch mal quengelt und protestiert, aber ihm würde sie in dem Fall entweder nicht auf den Schoss gegeben oder sofort wieder abgenommen.
Letztlich versuchen wir einfach, authentisch zu bleiben und die Situation nicht zu verdrehen. Er ist nicht mehr der Kleinste. Wir können ihn nicht mehr so oft auf den Arm nehmen. Bestimmte Dinge müssen jetzt besser funktionieren, weil noch weniger Kapazitäten als vorher da sind. Daran gibt es nichts zu rütteln. Aber auch nicht daran, dass er sich darüber beschweren kann und als Reaktion auf das neue Kind mehr Zeit mit uns einfordern darf. Ob wir das dann immer schaffen, steht auf einem anderen Blatt. Aber abgewiegelt wird nicht. Ausserdem bleibt er ein sehr lustiger kleiner Mann mit glucksendem Lachen und Unfug im Kopf, mit dem wir gerne Zeit verbringen. Zwar kein Nesthäkchen mehr, aber ein toller grosser Bruder.
Nils Pickert (1979), geboren in Ostberlin, nach dem Mauerfall mit einer waschechten Kreuzbergerin angebändelt. Gegenwärtig 4 Kinder: Emma (12), Emil (10), Theo (2½) und Maja (bald 1). Arbeitet als freier Journalist für diverse Medien und als Weltverbesserer bei dem Verein Pinkstinks, der sich unter anderem gegen Sexismus in der Werbung engagiert. Wurde von der «Weltwoche» mal als «maximal emanzipierter Mann» beleidigt, findet aber, dass ihm der Titel steht. Bloggt für «wir eltern» über Alltag mit Kindern, gleichberechtigtes Familienleben, neue Väter, Elternbeziehungen, Erziehungswahnsinn. Alle Blogg-Beiträge von Nils Pickert finden Sie hier.