Expertinnen-Interview
Super-Carer: «Externe Hilfe holen ist schwer»
Regula Blaser ist Professorin an der Fachhochschule Bern mit Schwerpunkt «Care». Und sie kennt ihr Fachgebiet nur zu gut aus eigener Erfahrung. Ein Gespräch über Theorie, Praxis und dieses Gefühl, keinem gerecht zu werden.
Frau Professor Blaser, Sie sind gleichzeitig Spezialistin für das Thema «Angehörige betreuen» als auch persönlich Betroffene ...
Ja. Aber das sind zwei völlig getrennte Welten, was man als Professorin in der Theorie weiss und wie es ist, wenn man in der Praxis persönlich betroffen ist. Als Fachfrau weiss ich, welche Gelder man in Anspruch nehmen kann, welche Unterstützungsmöglichkeiten es gibt, all das. Und dann steht man als Tochter da, und die Eltern sagen: Nein, wir wollen das nicht. Tja, da helfen Fachkenntnisse überhaupt nicht.
Wieso haben Sie gerade diese Thematik für Ihre Forschungen gewählt?
Das hat sich irgendwann ergeben und stetig an Relevanz gewonnen. Gerade die «Sandwich-Problematik» wird in den kommenden Jahren an Wichtigkeit zunehmen. Die Boomer-Jahrgänge werden unterstützungsbedürftig, die Menschen werden älter, und es ist heute normal, dass Frauen erst zwischen Mitte dreissig und vierzig Kinder bekommen. Es gibt also eine lange Phase im Leben, in der die mittlere Generation für zwei Generationen Betreuung leistet. Und: Der Stress beginnt ja nicht erst, wenn die Eltern pflegebedürftig werden, sondern viel früher, wenn sie immer häufiger Unterstützung bei Kleinigkeiten benötigen – der Übergang ist fliessend.
Was meinen Sie damit?
Nehmen wir meine Kinder und mich, ich bin alleinerziehend. Wir leben in Bern. Meine Eltern, beide 91, wohnen ausserhalb eines Dorfes, zehn Kilometer von Bern entfernt. Vor drei Jahren haben sie vernünftigerweise ihre Führerscheine abgeben. Aber von da ab konnten sie nicht mehr allein einkaufen oder zum Arzt fahren. Das musste dann ich übernehmen oder meine Schwester. Auch Freunde können sie jetzt nicht mehr besuchen. Damit sie nicht vereinsamen, besuche ich sie nun häufiger. Meine Tochter hat vergangenes Jahr Matur gemacht, das war eine Zeit, in der sie viel emotionale Unterstützung benötigte. Mein Sohn hat eine Legasthenie und läuft auch nicht glatt durch die Schule. Jedenfalls bin ich glücklich, einen Beruf und Arbeitgeber zu haben, der mir viel Flexibilität und das Arbeiten von daheim ermöglicht. Aber es ist nicht nur eine Zeit- und Organisationsfrage: Auch emotional macht es etwas mit einem, wenn die Eltern abbauen ...
Nehmen Sie die Spitex in Anspruch?
(lacht) Wir könnten viel in Anspruch nehmen. Meine Eltern könnten es sich auch leisten, sich unterstützen zu lassen, aber – sie wollen nicht. Beispiel: Zehennägel.
Beispiel Zehennägel?
Meine Mutter schneidet meinem Vater die Fussnägel, aber das ist bei alten Menschen nicht so einfach. Eine Podologin kommen zu lassen, ist ihnen aber peinlich. Die Zehennägel von jemand anderem schneiden zu lassen, die Vorstellung scheint sie abzuschrecken. Wie soll man dagegen sachlich argumentieren? Ob man da Professorin ist oder nicht, macht keinen Unterschied. Ich weiss aus Studien, dass zustehende und genehmigte Gelder von Betroffenen nur in einem geringen Prozentsatz bezogen werden. Unsere Familie ist also kein Einzelfall. Ich glaube, dass sich meine Mutter durch das, was sie für meinen Vater tut, gebraucht und nützlich fühlt. Das scheint mir ein Hauptmotiv vieler älterer Menschen zu sein, weshalb sie sich bei externer Hilfe schwertun.
Wie geht es Ihren Kindern in der herausfordernden Situation?
Ich hoffe, dass ich ihnen trotzdem gerecht werde und wurde. Ich arbeite ja nur 70 Prozent. Aber zu denken, sie sind ja schon gross, sie brauchen mich nicht mehr, das wäre ein Irrtum. Sie haben genauso das Recht, gehört zu werden mit ihren Zukunftsplänen und Sorgen. Das Organisatorische ist das eine, das kriege ich einigermassen hin. Auf einem anderen Blatt steht das Emotionale. Das Gefühl, es für irgendwen nicht gut genug zu machen. Zudem spült diese Belastungssituation in vielen Familien systemimmanente, tief sitzende Konflikte an die Oberfläche.
Nützliche Links
info-workcare.ch
careinfo.ch
alz.ch
angehoerige-pflegen.ch
caritas.ch
pflege-entlastung.ch
prosenectute.ch
proinfirmis.ch
spitex.ch
weplus.care/de-ch bietet unter «Offenes Ohr» eine telefonische Anlaufstelle für ratsuchende Angehörige; unter «Pflegerechner» etwaige Finanzierungsansprüche und unter «Notfallplan» Möglichkeiten, falls man plötzlich die Unterstützung nicht mehr selber leisten kann.
Von welchem systemimmanenten Konflikt sprechen Sie?
Etwa in unserem Familiensystem. Wir sind, wie ich aus der Forschung weiss, sehr typisch. Also: Ich habe eine ältere Schwester. Und obwohl wir beide nun wirklich erwachsen sind und ich zudem Professorin im passenden Sachgebiet bin, zählt für meine Eltern die Meinung «der Grossen» mehr als die «der Kleinen», also als meine Meinung. Da hilft mir mein Titel gar nicht. Es wurden beispielsweise altersgerechte Wohnungen im Dorf meiner Eltern gebaut. Ich hätte einen Umzug befürwortet, weil ich aus Studien weiss, wie entscheidend es ist, dass die Wohnlage so ist, dass sie die Selbstständigkeit der älteren Menschen so lang wie möglich erhält und nicht dagegen arbeitet. Meine Schwester sah das anders. Und meine Eltern folglich auch. Da gilt es, sich mit mancher familiären Altlast auseinanderzusetzen ...
Was müsste gesellschaftlich passieren, damit das Sandwich-Problem sich nicht verschärft?
Es muss uns gelingen, die Angebote, die es gibt, auch an die alten Menschen zu bringen. Es müsste in der Sozialisierung, in der Werbung und Kommunikation daran gearbeitet werden, dass es nicht länger als Stigma gilt, sich Hilfe zu holen. Auch müssen wir darauf hinarbeiten, dass die älteren Menschen zu einem früheren Zeitpunkt bemerken, dass sie Unterstützung benötigen. Überhaupt sollte in der Gesellschaft häufiger und offener über das Problem gesprochen werden.
Das sehe ich auch so, daher der Artikel...
(lacht) Man muss auch über falsche Vorstellungen reden, die herumgeistern. Etwa: Wieso Stress? Es gibt doch die Spitex. Ja, es gibt die Spitex, aber die ist nur für medizinische Dienstleistungen zuständig. Braucht jemand Hilfe beim Kochen, beim Einkaufen, bei Bankgeschäften et cetera, dann muss das separat bezahlt werden. Oder es wird von den Angehörigen erledigt. Wichtig ist auch, dass «Sandwich-Frauen» über ihre rechtliche Lage informiert sind: sie etwa wissen, dass sie zur Pflege Angehöriger freie Tage bei der Arbeit beziehen können. Nicht nur, wenn die Kinder krank sind. Manche Arbeitgeber bieten auch die Möglichkeit der «phasenweisen Pensumsreduktion» an. Ausserdem müsste die Gesellschaft sicherstellen, dass pflegende Angehörige keine finanziellen Einbussen haben. Nehmen wir die Frauen: Vielfach treten sie beruflich erst einige Jahre für die Kinder zurück und reduzieren später ihren Beruf wegen der unterstützungsbedürftigen Eltern. Was das für ihre AHV bedeutet, kann man sich vorstellen.