Interview mit Jesper Juul
Erziehung ist auch Gruppendruck
Seit fast 40 Jahren berät der dänische Familientherapeut und Bestsellerautor Eltern in Sachen Erziehung – mit einem wohltuend unaufgeregten Ansatz. Statt stets um die Schwierigkeiten und die Unbill mit dem Nachwuchs herumzutanzen wie um ein goldenes Kalb, plädiert Jesper Juul dafür, die Ressourcen aufzuspüren. Und damit ein tragbares Beziehungsgeflecht zu weben. Erst recht während der Pubertät.
wir eltern: Herr Juul, die Pubertät unserer Tochter fühlte sich an wie die Fahrt auf einer Geisterbahn in Endlosschlaufe. Demnächst kommt unser Sohn in die Pubertät. Müssen wir damit rechnen, noch einmal ein paar Jahre «Geisterbahnfahrt» vor uns zu haben?
Jesper Juul: Keine Sorge, Geschwister grenzen sich in der Pubertät voneinander ab und verhalten sich unterschiedlich. Sie werden vermutlich mit andern Schwierigkeiten zu kämpfen haben. So richtig gut wird man sowieso erst ab dem vierten Kind. Übrigens: Töchter sind für Mütter schwieriger, denn Mädchen haben vor allem Angst, so wie ihre Mutter zu werden …
… und Jungen so wie ihre Väter?
Es kommt darauf an, welche Vorstellungen ein Vater von seinem Sohn hat. Trägt er fixe Ideen im Kopf, was er aus seinem Kind «machen» will, sind die Probleme vorprogrammiert. Ist er hingegen neugierig und offen dafür, welchen Weg sein Sohn einschlägt, entspannt das die Lage beträchtlich. Man muss dem Kind zumuten, das Optimale aus seinem Leben zu machen.
Was angesichts des pubertären Verhaltens nicht immer einfach ist …
Sehen Sie, allein die Tatsache, dass die Zeitspanne des Erwachsenwerdens überhaupt problematisiert wird, ist doch stossend. Der Begriff «Pubertät» bedeutet ja entwicklungsphysiologisch die «Geschlechtsreifung». Mit Verlaub: Eine ganze Bevölkerungsgruppe über Hormone zu definieren, ist doch widerwertig. Das wäre ja, wie wenn man den Frauen wegen prä- und postmenstrueller Symptome über weite Strecken ihres Lebens die Zurechnungsfähigkeit absprechen würde!
Seit wann wird denn das Jugendalter problematisiert?
In Westeuropa vielleicht seit Anfang des letzten Jahrhunderts. Zuvor mussten die meisten Kinder ab 12 Jahren für sich selber sorgen. Erst mit dem längeren Verweilen in der Familie wurde diese Phase thematisiert. Aber nur in der westlichen Welt stellt sie ein Problem dar. In anderen Kulturen wird gefeiert, wenn Jungen oder Mädchen mit 13 oder 14 Jahren das Übertrittsalter erreichen. Sie werden mit Initiationsriten abgeholt und in der Erwachsenenwelt willkommen geheissen, sie wechseln vom Status «Kind» zum Status «Erwachsener». Bei uns wechseln sie vom «Kind» zum «Problemhaufen».
Wobei hirnorganisch nachweisbar «Umbauten» im Gang sind. Ich fand es besonders schwierig, dass die «Baustelle im Kopf» zeitgleich auf eine Phase trifft, in der schulisch entscheidende Weichen gestellt werden.
Die gesellschaftlichen Anforderungen an die jungen Leute sind enorm gestiegen, das stimmt. Aber wir tun heute auch so, als müssten alle einen Uniabschluss haben. Das erzeugt einen ungeheuren Druck und führt in eine fatale Entwicklung. Glauben Sie mir, es sind die angepassten Streber und die «Erfüller der elterlichen Erwartung», die mit 30 Jahren krank werden. Wenn ein junger Mensch hingegen sagt, «Ich mache den Schulquatsch nicht mehr mit», erfordert das unheimlich Mut. Sich loszustrampeln und einen eigenen Weg zu gehen, braucht Kraft.
Aber gewisse erzieherische Leitplanken mussten wir doch einfach setzen!
Das Wort «Erziehung» können Sie vergessen. Will man Konflikten vorbeugen, findet das in den ersten sieben oder acht Jahren statt, nachher greifen pädagogische Belehrungen nicht mehr. Die meisten Eltern haben aber auch während der Pubertät noch fixe Regelvorstellungen. Sie erwarten vom Jugendlichen, sich durch gehorsames Einhalten der Regeln das Vertrauen der Eltern zu verdienen. Das ist für einen Pubertierenden schlicht unmöglich. Als 13-Jähriger hat man noch keine Vogelperspektive. Man kann nicht sagen, ich mache das Theater der Eltern jetzt ein paar Jahre mit, danach ziehe ich aus. Das ständige Androhen von Konsequenzen hat noch nie geholfen. Im Gegenteil, es zerstört Vertrauen.
Andererseits: Wenn der Nachwuchs nicht mehr zur vereinbarten Zeit nach Hause kommt, sich mit seltsamen «Freunden» herumtreibt oder sich betrinkt, treibt einem das die Wände hoch!
Ja. Aber die Angst, die dahinter steckt, ist häufig unberechtigt. Ich spreche aus fast 40-jähriger Erfahrung als Familientherapeut. Es kommt meist gut. Eltern sind manchmal furchtbar egoistisch. Sie mokieren sich über ihre Brut, fühlen sich miserabel und überfordert. Dabei geht es immer um ihre eigenen Ängste. Sie fragen sich jedoch nie: Wie geht es eigentlich dem Kind? Eltern sollten während der Pubertät zu Sparringpartnern ihrer Kinder werden: maximaler Widerstand und minimaler Schaden.
Stichwort Peer-Gruppe: Eltern machen sich nun mal Sorgen, dass die Kinder unter dem Gruppendruck zwielichtiger Freunde saufen, kiffen oder gar kriminell werden.
Vergessen Sie nicht: Erziehung ist auch «Gruppendruck». Da zerren Lehrer, Eltern und andere Autoritätspersonen ständig an den Jugendlichen herum. Aber gerade die «Überkontrolle» erzeugt kriminelle Jugendliche. Teenager brauchen Menschen, die bedingungslos sagen: Du bist o.k. Sie hassen es, wenn Eltern sich ständig sorgen. Wenn sie von ihnen definiert, kategorisiert und belehrt werden. Oder wenn Eltern keinen Respekt vor dem Privatleben der Kinder haben.
Ich war erstaunt, wie viel Zeit und Energie wir Eltern noch einmal aufbringen mussten während der letzten paar Jahre …
… und Sie sich vor allem noch einmal auf einen Lernprozess einlassen mussten. Scheuen sich Eltern davor, stellt sich die Frage, ob sie sich nicht lieber einen kleinen Hund zugetan hätten statt Kinder. Woher kommt überhaupt die Erwartung, dass die Zeit mit Jugendlichen einfach sein soll? Liebesbeziehungen sind nie einfach. Nie. Natürlich haben die Anforderungen zugenommen. Die wirtschaftliche Entwicklung zwingt oft beide Elternteile zu arbeiten. Dennoch: Auch wenn die Kinder nun viel mehr Zeit mit der Peer-Gruppe verbringen, sind die Eltern wichtig. Zwar schleichen Teenys manchmal wie Zombies durch die Welt – dennoch wollen sie geliebt werden.
Was ist denn das Beste, was Eltern tun können in dieser Zeit?
Ihren Kindern zu vertrauen. Und sich wieder vermehrt um ihr eigenes Leben, die eigenen Beziehungen zu kümmern. Sie müssen sich von der Elternrolle lösen, aufhören, «Mutti» zu spielen. 14-jährige Jugendliche sollten Kleider waschen können, einkaufen und auch mal für sich selber oder die Familie kochen. Im Grunde ist es ein entwürdigender Zustand, nichts zur Gemeinschaft beitragen zu können. Insbesondere Mütter haben die Tendenz, mit dem Serviceangebot aus ihren Kindern ewige Teenager zu machen. Für sie ist es manchmal besonders schmerzhaft, zu akzeptieren, dass irgendwann Schluss ist mit dem Lebensinhalt «Kind». Stattdessen ist es unabdingbar, sich für den «Menschen im Kind» zu interessieren. Verständnis zu haben, die junge Frau oder den jungen Mann anzuerkennen und eine empathische und respektvolle Beziehung zu ihm aufzubauen.
Zur Person
Jesper Juul ist ein dänischer Familientherapeut, Gründer und Leiter des Kempler Institute of Scandinavia in Odder in Dänemark sowie Autor mehrerer Bücher um Familienbeziehungen und Erziehung.
Bücher
[«Pubertät. Wenn Erziehen nicht mehr geht»] (http://www.thalia.ch/shop/jaestartstartseite/suchartikel/pubertaetwennerziehennichtmehrgeht/jesperjuul/ISBN3-466-30871-2/ID18688504.html?jumpId=18563046), 2010, Kösel-Verlag, Fr. 32.90
[«Elterncoaching. Gelassen erziehen»] (http://www.thalia.ch/shop/jaestartstartseite/suche/?sswg=ANY&sq=%ABElterncoaching.+Gelassen+erziehen%BB&submit.x=38&submit.y=11), 2011, Beltz-Verlag, Fr. 29.90
Familylab.ch
Autoritäre Erziehung? Damit wurden in der Vergangenheit kindliche Rückgrate gebrochen, statt sie zu stärken. Aber: Auch die antiautoritäre Erziehung ist gescheitert. Im Hinblick auf die veränderten Ansprüche im Familien- und Schulalltag hat Jesper Juul deshalb familylab international gegründet. In Seminaren, Elternkursen und Beratungen plädiert er für eine Atmosphäre in der Familie, die weder von formeller Autorität noch von den Launen des Kindes gesteuert wird, sondern von Nähe, Respekt, Klarheit und Liebe geprägt ist.
Infos unter [www.familylab.ch] (http://www.familylab.ch/)