Elternkolumne
Endo Anaconda übt sich als Vater im Loslassen
Kinder loszulassen bedeutet Kontrollverlust, findet der Sänger Endo Anaconda. Er fragt sich, was seine Mutter damals wohl mit ihm durchlitten hat.
Kinder sind, sobald sie das Licht der Welt erblicken, schon Nestflüchtlinge. Das ist so eine Art Naturgesetz. Dessen wird man sich erst bewusst, wenn sich die ersten Stürme der Pubertät bemerkbar machen und sich der Nachwuchs nicht so verhält, wie man sich das als Vater oder Mutter vorstellt.
Bei mir führte der Sturm und Drang schon früh zu Fluchtversuchen. Mit 17 trampte ich mit meinem Kumpel Rudi Ölwein (der Name war Programm) nach Rom, ohne dass wir uns daheim verabschiedet hätten. Als ich einen Monat später mit Läusen in der Langhaarfrisur heimkehrte, wurde ich mit DDT entlaust – damals hielt man das noch für unbedenklich. Meine Mutter hatte mich mit Interpol suchen lassen. Danach löste sich die mütterliche Umklammerung etwas – allerdings nur vorübergehend. Bis ich der Enge des elterlichen Hauses in Kärnten endgültig entfloh, um in Wien meine Berufslehre zum Serigraphen zu absolvieren.
Heute, selbst oft in übertriebener, schlafloser Sorge um meine Kinder, die keine Kinder mehr sind, ahne ich, was meine arme Mama durchgemacht haben muss. Ich fühle mich ausgegrenzt. Und das nach geschätzten 5000 Gutenachtgeschichten. Nachdem ich jahrelang als Walross die quietschenden Sprösslinge auf dem Rücken getragen habe und durch das von Tag zu Tag gelblicher werdende Wasser des Kinderbeckens gepflügt bin – bis sie endlich schwimmen gelernt haben. Nachdem ich sie genährt, gewickelt (Pampers pflastern den Weg), getröstet und belehrt habe und sie mir untrennbar ans Herz gewachsen sind.
Dann plötzlich dieser Kontrollverlust, mit dem man klarkommen muss. Als unterhaltspflichtiger, teilerziehender Vater von drei «alleinerziehenden» Glücksfällen (26, 17 und 9 Jahre alt) weiss ich, wovon ich rede. Es ist schwierig, seine Kinder zu ermahnen, nicht die gleichen Fehler zu begehen, vor allem, wenn der eigene Lebenslauf auch kein Ruhmesblatt ist und ich bis heute gerne mit einem Glas Prosecco in der Hand auf den Balkon rauchen gehe. Auch meine beiden älteren Kinder rauchen – was mich zutiefst besorgt. Sie rauchen sogar in der Küche bei geöffnetem Fenster. Ich gehe zumindest auf den Balkon, um sie nicht unnötigen Gefahren auszusetzen und ihre unergründliche Online-Kommunikation nicht zu stören.
Von den Inhalten, welche sie für mich unsichtbar teilen, habe ich ohnehin keine Ahnung. Meine Mama wusste damals auch nicht, dass ich schlaflos, nächtelang mit der Taschenlampe heimlich die Bücher der amerikanischen Beat Poeten William S. Burroughs und Allen Ginsbergs verschlang. Die Schulnoten sprachen Bände – man vermutete Schlafkrankheit.
Es gibt vieles, vor dem man seine Schützlinge warnen müsste: komische Typen, Zigis, Alkohol, Kiffen, Kollegen, Schusswaffen, Darknet, Roger Köppel, illegale Strassenrennen. Man sollte sie aber vor allem davor warnen, dass man als Eltern nie ganz perfekt sein kann. Das meiste lernen unsere Nachkommen sowieso von ihren Freunden oder online.
In meiner Jugend war das anders, da stand das Telefon mit der Wählscheibe am ungemütlichsten Platz in der Wohnung – jedes meiner stundenlangen Telefonate wurde mitgehört. Vor allem um zu verhindern, dass ich mit vermeintlich bedenklichen Kollegen in Kontakt kam. Für deren misstrauische Erzeuger war hingegen ich – der unbeschreiblichen Frisur, des frechen Betragens und der desaströsen Schulleistungen wegen – der falsche Umgang. Das Misstrauen war zwecklos – keiner aus meiner damaligen Clique landete im Knast oder im Irrenhaus. Also ruhig bleiben, vertrauen und – loslassen!
Diese Kolumne erschien zuerst in «wir eltern» 04/2018.