Tischmanieren
«Ellenbogen vom Tisch!»
Sie sieht aus wie eine ganz normale Kellnerin. Aber sie ist keine. Die Frau, die den 16 Mister-Schweiz-Kandidaten formvollendet Spaghetti Vongole und Mistchratzerli aufträgt, ist niemand anderes als Lucia Bleuler, Image-Coach und Benimm-Expertin. Was die vermeintliche Kellnerin sieht, schockiert sie: Jeans und Turnschuhe im 5-Sterne-Restaurant, Pouletschenkel, die von Hand in wohlgeformte Männermünder bugsiert werden und junge Männer, die ihr Brötchen schamlos mit dem Buttermesser teilen. «Unbeholfen und überfordert», lautet das Urteil der Fachfrau, «viele kennen nicht einmal die Basics. Ein absoluter Fauxpas!», ist Bleuler überzeugt, denn wer sich zu benehmen wisse, habe es in allen Bereichen des Lebens einfacher.
Eine Ansicht, die viele Eltern teilen: «Ich und mein Ehemann geben unser Bestes, unseren Kindern gutes Benehmen beizubringen», erklärte zum Beispiel die vierfache Promi-Mutter Heidi Klum kürzlich dem deutschen Nachrichten-Magazin Focus. Im Hause Klum-Seal werde weder geflucht noch dulde sie vulgäre Ausdrücke. So weit so gut. Dass Kinder nicht fluchen sollen, dass sie «bitte» und «danke» sagen müssen, darin sind sich wohl die meisten Eltern einig. Aber müssen Kinder auch wissen, mit welcher Gabel man im Restaurant den Salat isst, wie man eine Serviette korrekt faltet oder dass die Ellbogen nicht auf den Tisch gehören? Und wenn ja, ab welchem Alter?
«Für mich hat das mit Respekt zu tun»
«Bei mir galten diese Regeln bereits, als Marvin zwei Jahre alt war», erinnert sich Andrea Huber. Sie und ihr Mann legen grossen Wert auf einen schön gedeckten Tisch und tafeln gerne gediegen – auch daheim. «Wir leben unserem Sohn täglich Tischmanieren vor», sagt Huber. Für sie sei es selbstverständlich, dass auch ihr Sohn diese einhalte. Bei Hubers sind am Familientisch Wörter wie «gruusig» oder «wäh» tabu. Es wird alles probiert und grundsätzlich gegessen, was auf den Tisch kommt. Vom Tisch geht Marvin erst, wenn alle fertig sind. Er weiss auch, dass man nicht mit vollem Mund spricht und die Ellbogen nicht auf die Tischplatte gehören. Passiert ihm trotzdem einmal ein Missgeschick, entschuldigt er sich. «Für mich hat das mit Respekt zu tun. Respekt vor der Person, die gekocht hat und auch Respekt gegenüber der Tatsache, dass wir jeden Tag genügend zu essen haben. Dafür sollten wir dankbar sein und uns entsprechend verhalten.» Marvin, heute 6-jährig, esse bis auf Spargeln und gewisse Pilze alles und freue sich über ein schön angerichtetes Essen. Mit seinem Grossvater besucht er regelmässig Gourmet-Restaurants. Der einzige Nachteil ihrer Erziehung sei, sagt Andrea Huber lachend, dass es immer teuer werde, wenn man mit ihrem Sohn auswärts essen gehe: «Marvin bestellt keine Chicken Nuggets, sondern Schnecken zur Vorspeise und Egli-Filets im Teig als Hauptgang.» Andrea Huber ist sicher, dass es sich lohnt, die gängigen Benimm-Regeln von Anfang an einzufordern. «Marvin hat es später sicher einmal einfacher als Kinder, die sich damit gar nicht auskennen.»
Karin Pelagatti sieht das anders: Sie hält nicht viel von Benimm-Regeln für Kinder. «Essen muss Spass machen», sagt die Mutter von Loris, Lina und Nico. Die drei dürfen aussuchen, was sie mögen, von Hand essen, wenn sie dazu Lust haben, und wenn sie fertig gegessen haben, dürfen sie zurück zu Modelleisenbahn oder Puppenwagen. «Dass alle sitzen bleiben müssen, bis die anderen fertig sind, bedeutet doch nur Stress für Kinder und Eltern», sagt Pelagatti. Ihre Kinder sollen später einmal selber entscheiden können, welche Regeln sie für wichtig halten und welche nicht. «Ich zwinge sie zum Beispiel auch nicht, Leuten die Hand zu geben», sagt sie weiter. «Ich entscheide ja auch selber, wem ich so nah kommen will und wem nicht.»
Vielleicht wäre Adolph Freiherr Knigge, der Verfasser des heute als «Knigge» bezeichneten Werkes «Über den Umgang mit Menschen», gar nicht so uneins mit Karin Pelagatti, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Knigges Aufklärungsschrift aus dem Jahre 1788 ist nämlich keineswegs nur eine Anleitung, wie man sich in feiner Gesellschaft zu Tische benimmt, sondern ein Ratgeber für Höflichkeit und Takt im Umgang mit «Leuten von verschiedenen Gemütsarten, Temperamenten und Stimmungen des Geistes und Herzens». Tischsitten sind hierbei nur ein kleines Detail. Über deren Stellenwert kann man sich wunderbar streiten. Für den Pädagogen und Philosophen Roland Neyerlin zum Beispiel sind sie ein alter Zopf, der längst abgeschnitten gehört. Benimm-Kurse für Kinder sind ihm ein Graus: «Kinder brauchen keine Eventpädagogik mit Essensübungen beim Dreigänger», liess er sich kürzlich in einer Schweizer Tageszeitung zitieren.
Tischmanieren: Kein Zwang und Drill
Lucia Bleuler hingegen führt regelmässig ebensolche Seminare für Kinder ab sechs Jahren durch und schwärmt davon, mit welchem Eifer die Kleinen beim Tischdecken das Besteck ausrichten und wie sie mit ihren kleinen Fingerchen das Glas elegant am Stil fassen. «Schon ein fünfjähriges Kind kann die wichtigsten Regeln einhalten», sagt Bleuler. Sobald ein Kleinkind zu Löffel und Gabel greife, sei es Zeit, ihm den Umgang damit beizubringen. Was nicht heisse, dass ein Baby nicht auch einmal mit den Fingern in die Spaghetti greifen dürfe. Bleuler distanziert sich von Zwang und Drill. Sie setzt auf konsequentes Vorleben und ist überzeugt, dass Kinder Tischsitten gerne anwenden, wenn man sie ihnen spielerisch vermittelt. Führe das alles nicht zum gewünschten Erfolg, rät sie zu einem ihrer Kurse: «Spätestens dort werden die Kinder Feuer fangen», ist die Pionierin in Sachen Kinder-Knigge überzeugt. Der Win-win-Effekt: «Vom Gelernten profitieren nicht nur die Kinder ein Leben lang, sondern auch manche Eltern und Hortmitarbeitende.»
Buchtipps
Messer, Gabel, Enterhaken: Benimmroman für Kinder (ab 8) und Piraten. Lucia Bleuler, Eugen U. Fleckenstein (Illustr.)
Upps, benimm dich! Das vergnügte Benimmbuch für Kinder.
Scheffler, Ursel; Tim, Jutta (Illustr.)
Benimm-Kurse für Kinder ab sechs Jahren