Ist eine sichere Bindung mit dem Kita-Besuch vereinbar? Einschätzungen der Erziehungswissenschaftlerin Jeannine Hess.
wir eltern: Gelingt es Kindern, ein sicheres Bindungsverhalten aufzubauen, wenn sie bereits als Baby fremdbetreut werden?
Jeannine Hess: Ja. Ein Kind verfügt von Geburt an über verschiedene soziale Grunddispositionen, wie zum Beispiel das Interesse für menschliche Gesichter und Stimmen. Deshalb kann ein Baby neben den Eltern – seinen primären Bezugspersonen – auch sekundäre Bindungen eingehen, etwa zu einer Tagesmutter oder in der Kita.
Was muss in der Kita gewährleistet sein, damit ein kleines Kind mit der Kita-Betreuerin vertraut werden kann?
Wichtig ist die Kontinuität der Bezugsperson. Die Betreuerin braucht Zeit, um auf ein Kind einzugehen, um seine Signale, Bedürfnisse und Gefühle wahrzunehmen. Sie baut einen Dialog mit dem Baby auf, mit Blickkontakten, Halten, Tragen und Berührungen. Zum Bindungsaufbau gehört auch, dass sich der Tagesablauf nach dem Kind richtet und nicht umgekehrt. Damit dies gelingt, müssen Babyplätze in der Kita personell grosszügiger bemessen sein als die normalen Plätze für Vorschulkinder. Wichtig sind auch die Zusammenarbeit mit den Eltern und eine sorgfältige Eingewöhnung.
Warum?
Um den Ablösungsprozess von den Eltern gut zu gestalten. Das ermöglicht dem Kind einen sanften Einstieg in die Kita und in den Beziehungsaufbau zu den Betreuerinnen. Die Eingewöhnung ist auch für die Eltern wichtig: Oft ist es das erste Mal, dass sie sich vom Kind trennen. Das muss man behutsam angehen. Wenn die Eltern zufrieden sind und das Kind darin bestärken, dass die neue Umgebung eine gute ist, dann wirkt sich dies positiv aufs Kind aus.
Darf eine Kita-Betreuerin ein kleines Kind küssen und herzen?
Grundsätzlich braucht ein kleines Kind Geborgenheit und Zuwendung. Es muss sich sicher fühlen und braucht Schutz. Wenn die Zärtlichkeit in einem Rahmen ist, der die Intimsphäre respektiert, sehe ich kein Problem.
Manche kritisieren, ein kleines Kind sei in der Kita dauerhaftem Stress ausgesetzt, zum Beispiel durch Lärm oder andere Kinder, was sich psychisch und physisch negativ auswirke. Wie beurteilen Sie das?
Die Qualität ist entscheidend. Wenn die Kita einen viel zu kleinen Raum und zu viele Kinder hat, kann das durchaus ein Stress sein. Wichtig ist, dass das Kind in einer wohlbehüteten Umgebung ist, und dass Lärm und zu viele Reize vermieden werden. Andere Kinder sind für ein Kind grundsätzlich interessant; es sucht den Kontakt zu ihnen, braucht den Austausch mit seinen «Peers». Dies beeinflusst auch seine Identitätsentwicklung. Bei einem sehr kleinen Kind stehen Zweierbeziehungen im Vordergrund; je älter es wird, desto eher sucht es den Austausch mit mehreren. Deshalb sehe ich andere Kinder nicht als Stressfaktor.
Beeinträchtigt die Fremdbetreuung nicht die Bindung zu den Eltern?
Hier gibt es klare Ergebnisse aus der Forschung, insbesondere aus der amerikanischen NICHD-Studie: Die ausserfamiliäre Betreuung geht nicht auf Kosten der Elternbeziehung. Eltern bleiben immer die primären Bindungspersonen. Die Beziehung zu den Betreuerinnen ist eine andere. Viel relevanter ist das Verhalten der Eltern selbst: Wie feinfühlig sind sie? Wie viel Zeit haben sie ausserhalb der Kita für ihr Kind? Wie ist die Qualität der Beziehung? Die Zufriedenheit der Eltern hat auf das Kind einen viel grösseren Einfluss als der Besuch einer Kita.
Jeannine Hess ist Doktorandin in Erziehungswissenschaften bei Prof. em. Margrit Stamm (Universität Fribourg) und Projektleiterin von PRINZ. Das Forschungsprojekt will Erfolgsfaktoren eruieren, welche die Entwicklung und Integration von Kindern in Kita und Kindergarten begünstigen.