Ratgeber-Autorin Natalie Rehm wirbt für mehr Geduld in Bezug auf die Entwicklungsschritte des Babys und Kleinkinds und sagt, worauf wir bei der Begleitung junger Kinder achten sollten.
wir eltern:Es ist faszinierend, wenn man sich die Bandbreite der Entwicklung vor Augen hält, die Babys und Kleinkinder in den ersten Jahren durchlaufen. Mir scheint, dass den meisten Erwachsenen die Grösse dessen nicht ganz bewusst ist. Natalie Rehm: Ja, auch mir selbst ist es so gegangen. Ich hatte aber das Glück, dass ich mit 19 Jahren ein Buch von Emmi Pikler gelesen habe. Ihre Beobachtungsgabe hat mich sofort überzeugt und mir war klar, dass sie keine Theorie darlegt, sondern ihre Pädagogik im Prinzip der Natur abgelauscht hat. Es geht bei der Elternschaft deshalb ganz viel um Bewusstseinsarbeit.
Durch dieses Unwissen geht uns als Eltern die Entwicklung des Kindes häufig nicht schnell genug, gerade beim ersten Kind. Wir wünschten uns, es würde schon durchschlafen, sitzen, selber essen. Was hilft dagegen?
Der Mensch ist von Natur aus ein Langsam-Entwickler. Wenn man die drei Hauptentwicklungsschritte Gehen, Sprechen, Denken kennt, begleitet man die Kinder viel bewusster und macht sich weniger Sorgen. Man erkennt dann, dass das Kind aus sich heraus den nächsten Schritt macht, sobald es so weit ist. Manchmal muss man allerdings sehr viel Geduld haben, aber es lohnt sich. Denn wenn das Kind von sich aus dahin kommt, ist es auch wirklich reif genug. Wir haben die Tendenz, zu viel und vieles zu früh von den Kindern zu erwarten.
Zum Beispiel?
Wir verlangen, dass Babys sehr schnell essen lernen; die Nahrungsaufnahme ist aber ein sensibler Bereich. Für einen Säugling ist es eine grosse Herausforderung, feste Nahrung zu schlucken, die mit einem Löffel in seinen Mund befördert wird. Das sind viele neue Reize, auch geschmacklicher Art, doch wehe, wenn es nicht nach zwei Wochen klappt! Richtig wäre, wenn wir das Kind bei dieser Umstellung aufmerksam, feinfühlig und geduldig begleiten und ihm dafür genug Zeit lassen.
Was passiert, wenn das Kind in seiner natürlichen Entwicklung gestört wird?
Je nach Grad der Einflussnahme reagiert es mit Entwicklungsauffälligkeiten. Diese kann man entsprechend der drei Hauptentwicklungsbereiche differenzieren in motorische, sprachliche und kognitive Auffälligkeiten – beispielsweise ungeschickte Bewegungen oder häufige Stürze, Schwierigkeiten beim Sprechen oder Verstehen, mangelnde Konzentrationsfähigkeit oder Unruhe. Dazu kommen noch Verhaltensauffälligkeiten. Soziales Verhalten wird durch Nachahmung gelernt und ist deshalb abhängig von den Erfahrungen, die das Kind mit seinen Mitmenschen macht. Das heisst, wenn ein Kind verhaltensauffällig ist, sollte man weniger beim Kind schauen, sondern bei den es begleitenden Erwachsenen.
Was, wenn die Kinder schon älter sind und man merkt, dass man gewisse Dinge falsch gemacht oder verpasst hat? Kann man etwas nachholen?
Das ist ein heikles Thema. Uns allen muss klar sein, dass Eltern ihr Bestes geben; es hilft zu akzeptieren, wie es gewesen ist. Wenn nun neues Wissen dazu kommt, ist es eine Chance, dieses zu integrieren – genau da, wo man gerade steht. Natürlich gibt es Entwicklungsfenster, während denen das Kind gewisse Dinge leichter und unproblematischer lernt. Doch Anpassungsfähigkeit gehört – Gott sei Dank – zum Leben und was versäumt wurde, kann auch später noch geübt werden. Das erfordert dann meist mehr Energie und man kommt vielleicht in der Regel nicht so weit, wie wenn man es zum richtigen Zeitpunkt gelernt hätte. Aber es gibt Nachholmöglichkeiten.
Frühe Kindheit
Die ersten 1000 Tage sind entscheidend für die Entwicklung des Kindes. Was Eltern tun und besser lassen sollten, um ihr Kind zu unterstützen.