Scheidung – Residenzmodell und Wechselmodell
«Das Sorgerecht ist mutterzentriert»
wir eltern: Frau Sünderhauf-Kravets, Studien haben gezeigt, dass jedes zweite Kind zwei Jahre nach der Scheidung seiner Eltern keinen Kontakt mehr zum Vater hat. Was läuft schief?
Sünderhauf-Kravets: Wenn sich Vater und Kind alle zwei Wochen treffen und etwas Freizeit miteinander verbringen, ist das keine vollständige Eltern-Kind-Beziehung. Emotionale Bindungen entstehen schlicht nicht durch Kinobesuche und Freizeitvergnügen.
Sondern?
... durch gemeinsames Erleben im Alltag: Einkaufen, kochen, Schularbeiten machen, Krankheiten durchstehen, wissen, was den anderen beschäftigt, als Elternteil Grenzen setzen. Dies wird nur durch gemeinsamen Alltag erreicht.
Gemäss neuem Recht über die elterliche Sorge sollen geschiedene oder getrennte Eltern gemeinsam das Sorgerecht für ihre Kinder erhalten. Trotzdem sehen viele Kinder den Vater hauptsächlich am Wochenende. Ihre Einschätzung?
Die gemeinsame rechtliche Sorge ist ein unbedingt notwendiger erster zu begrüssender Schritt. Damit ist es jedoch nicht getan. Das sogenannte Residenzmodell mit Lebensmittelpunkt bei der Mutter ist aus Sicht aller Beteiligter problematisch.
Viele geschiedene Mütter fühlen sich aber wohl in der Rolle als Hauptbezugsperson.
Im Residenzmodell sind Mütter häufig überlastet mit Kinderbetreuung, Erwerbsarbeit und Hausarbeit. Sie haben keine Zeit für eigene Interessen und neue Beziehungen.
Dass hingegen engagierte Väter im Residenzmodell zu kurz kommen, leuchtet ein. Was ist Ihre Erfahrung?
Viele Väter verlieren den Kontakt zu ihren Kindern, denn sie spielen keine Rolle mehr in ihrem Alltagsleben. Sie fühlen sich zum Zahlvater degradiert und verlieren häufig das Interesse. Oder sie wenden sich aus Selbstschutz ab, weil sie unter der Entfremdung zum Kind leiden.
Das ist dann wieder problematisch für das Kind. Gibts dazu Erfahrungswerte?
Die Scheidungsfolgenforschung hat seit Jahrzehnten nachgewiesen, dass es nicht die Trennung an sich ist, die Kinder belastet, sondern erstens der Verlust des Kontakts zu einem Elternteil, zweitens der häufige ökonomische Abstieg der Alleinerziehenden und drittens Konflikte zwischen den Eltern. Das sogenannte Wechselmodell setzt hier an.
Wie funktioniert das Wechselmodell?
Im Wechselmodell teilen die Eltern die Verantwortung gleichberechtigt auf. Ob sie das Kind je 50 Prozent bei sich betreuen oder zum Beispiel 40 zu 60 Prozent, spielt weniger eine Rolle, als dass das Kind wirklich bei beiden Eltern zu Hause ist und nicht zu Besuch. Die Wechsel sind nach dem kindlichen Zeitempfinden gerichtet. Bei jüngeren Kindern ist der Takt eng, zum Beispiel 3:3:2 Tage. Kindergartenkinder sind vier Tage hier, drei Tage dort. Ab Schulbeginn ist der wöchentliche Wechsel sinnvoll, auch weil er sich an die Taktung des Schülerlebens anpasst.
Empfinden die Kinder diese Wechsel eher als belastend?
Jeder Wechsel (übrigens auch im Residenzmodell) ist eine praktische und psychische Anstrengung. Deshalb gilt: je weniger Wechsel, desto besser. Kinder im Wechselmodell sind weit zufriedener mit ihrer familiären Situation und die meisten finden, dass sich die Anstrengungen lohnen. Studien zeigen, dass die psychische Anpassung von Kindern im Wechselmodell besser ist als im Residenzmodell. Sie sind auch physisch gesünder und zum Beispiel seltener Mobbing-Opfer.
Woran liegt das?
Im Wechselmodell bleibt der Kontakt zu beiden Elternteilen intensiv erhalten. Die emotionalen Bindungen sind in diesem Modell ebenso eng wie in «intakten» Familien. Weiter haben die Eltern im Wechselmodell mehr Ressourcen für ihr Kind übrig: Im Residenzmodell ist ein alleinerziehender, berufstätiger Elternteil – meist die Mutter – durch die Doppelbelastungen häufig überlastet.
Welche Konsequenz hat diese Überlastung auf das Kindeswohl?
Die Mutter kann dem Kind weniger Zeit, Zuwendung und Geduld entgegenbringen. Beim Vater kann das Kind dieses Manko nicht kompensieren, denn er ist abwesend. Im Wechselmodell profitieren die Kinder nicht nur auf emotionaler, sondern auch auf ökonomischer Ebene: Beide Eltern können einfacher erwerbstätig sein. Dadurch hat die Gesamtfamilie mehr Geld. Die Kinder profitieren auch davon, weil ihnen zwei Eltern einfach mehr bezahlen als ein Elternteil. Väter geben ihr Geld lieber direkt für die Kinder aus, als an die Mutter zu bezahlen.
Bedingt das Wechselmodell nicht eine enge Zusammenarbeit zwischen den getrennten Eltern? Das dürfte schwer sein.
Nachgewiesenermassen müssen Eltern im Wechselmodell nicht mehr kooperieren und kommunizieren als im Residenzmodell mit Umgangskontakten. Das Wechselmodell kann auch praktiziert werden, wenn die Eltern in hoch eskalierten Elternkonflikten verstrickt sind.
In welcher Form?
Es braucht einen strengen Betreuungsplan, der keinen Spielraum für Diskussionen bietet. Zum Beispiel kann der Wechsel immer am Freitag über die Schule oder Kita erfolgen. Die Eltern müssen sich gar nicht begegnen. Häufig aber können Konflikte über das Sorgerecht, den Unterhalt oder die konkrete Betreuungsplanung im Wechselmodell vermieden oder deeskaliert werden. Das sogenannte Co-Parenting wird im Laufe der Zeit im Wechselmodell meistens besser. Davon profitieren Kinder direkt.
Müsste die Schweizer Sorgerechtsrevision also Ihrer Ansicht nach noch weitergehen?
Ja. Es wäre wichtig, das Wechselmodell als eine gesetzliche Alternative ins Zivilgesetzbuch aufzunehmen.
Wo steht die Schweiz im internationalen Vergleich?
Leider ist die elterliche Sorge im internationalen Vergleich in der Schweiz noch sehr mutterzentriert geregelt und wenig Kind-orientiert. Dies ist umso verwunderlicher, als die relativ kleine geografische Grösse eine räumliche Beschränkung der Nachtrennungsfamilie für einige Jahre erleichtern würde.
Wie verbreitet ist das Wechselmodell?
Weder in der Schweiz, in Deutschland noch in Österreich gibt es statistische Erhebungen über die Betreuung von Kindern. In den USA gehen Statistiken von zirka 20 Prozent aus. In Schweden, Norwegen und Belgien ist das Wechselmodell bei Kindern im Grundschulalter häufiger. Auch in Deutschland boomt das Thema. Es gibt auch mehr Gerichtsentscheidungen pro Wechselmodell.
Gibt es Länder, die das Wechselmodell als Regelfall kennen?
Dies ist in Belgien und Australien der Fall, in beiden Ländern seit 2006. Die Erfahrungen sind sehr gut.
Was braucht es, damit dieses Betreuungsmodell auch in der Schweiz grössere Verbreitung findet?
Zunächst die gemeinsame elterliche Sorge. Dann eine gesellschaftliche Diskussion, zum Beispiel über die Auswirkungen des «Vaterverlustes» für die Kinder und die positiven Auswirkungen des Wechselmodells auf Scheidungskinder. Schliesslich bräuchte es auch finanzielle Anreize für Unterhaltszahler, sich um die Kinder mehr zu kümmern. Das heisst: Die Übernahme von zusätzlichen Betreuungsleistungen muss sich in Form einer Unterhaltsreduktion bemerkbar machen.
Hildegund Sünderhauf-Kravets ist seit dem Jahr 2000 Professorin für Familienrecht an der Evangelischen Hochschule Nürnberg. In den vergangenen drei Jahren hat sie sich ausschliesslich mit der Forschung über abwechselnde Kinderbetreuung getrennt lebender Eltern beschäftigt. Im Mai erscheint ihr Buch dazu: «Wechselmodell: Psychologie – Recht – Praxis» im VS Verlag/ Springer Fachmedien, Wiesbaden. Es ist die erste deutschsprachige Publikation zum Thema. Bevor Sünderhauf-Kravets in die Forschung und Lehre ging, war sie als Scheidungsanwältin tätig. Die 47-Jährige ist Mutter von zwei schulpflichtigen Töchtern.