Geburt – Bonding
Das Liebesband
Es war abends kurz vor acht, als das Ehepaar im Spital eintraf. Die Frau hatte einen anstrengenden Tag hinter sich. In aller Eile musste sie zu Hause letzte Vorbereitungen treffen, damit der Mann und die beiden älteren Kinder während ihrer Abwesenheit gut versorgt waren. Sie war erschöpft von den vielen Aufgaben, mit denen sie als berufstätige Mutter betraut war, erschöpft von der Schwangerschaft, die ihr in den letzten Wochen zunehmend den Schlaf geraubt hatte. «Wenn die Geburt vorbei ist», dachte sie, während sie mit ihrem Mann die paar Stufen zur Geburtsabteilung hochging, «werde ich erst einmal schlafen.»
Doch als das Kind eine Stunde später, nach einer kurzen Eröffnungsphase und drei Presswehen, geboren war, hatte sie ihr Schlafbedürfnis vergessen.
Um die Qualität einer Bindung festzustellen, hat die Kanadierin Mary Ainsworth in den 1970er-Jahren ein Experiment entwickelt, die so genannte Fremde Situation. Diese basiert auf der Frage: Wie reagiert ein einjähriges Kind, wenn die Mutter den Raum verlässt und es mit einer fremden Person zurücklässt, zum Beispiel in der Kindertagesstätte? Ainsworth definierte danach vier Bindungstypen:
- Sichere Bindung: Das Kind fängt an zu weinen, lässt seinem Kummer freien Lauf, lässt sich trösten und beruhigt sich – und freut sich, wenn die Mutter wiederkommt.
- Unsicher-vermeidende Bindung: Das Kind setzt sowohl beim Weggang als auch der bei Rückkehr der Mutter ein «Pokerface» auf, obwohl es innerlich hoch gestresst ist.
- Unsicher-ambivalente Bindung: Das Kind ist nach der Trennung kaum zu beruhigen. Bei der Wiederkehr der Mutter zeigt es abwechselnd anklammerndes und aggressiv-abweisendes Verhalten.
- Desorganisierte Bindung: Das Kind zeigt bizzare Verhaltensweisen wie Erstarren, Schaukeln oder Im-Kreis-Drehen, die nicht auf die Mutter bezogen sind.
Da war es, das Neugeborene, Haut auf Haut auf ihrem Bauch, noch voller Käseschmiere; kein Junge, wie sie geglaubt hatte, sondern ein Mädchen, das sie mit hellwachen Augen anschaute. Die Frau hielt das Kind zärtlich umfangen, überrascht von der Perfektion des kleinen Wesens und durchflutet von wiederkehrenden Wellen des Glücks; als hätte sie jetzt erst realisiert, dass sie zum dritten Mal Mutter geworden war. Immer wieder suchte das Neugeborene mit dem Mund ihre Brust ab, saugte zwischendurch an seinen Händchen, schaute sie an und lauschte den Liebkosungen, die sie mit halblauter Stimme äusserte.
Nach einer guten Stunde nuckelte es erstmals an ihrer Brust, aus der das Colostrum, die wertvolle Vormilch, floss. Um Mitternacht fuhr der Ehemann nach Hause. Sie aber lag die ganze Nacht wach mit ihrem Kind, umsorgt von der Hebamme. Ihr Organismus schüttete zyklisch Oxytocin aus, das «Liebes- und Glückshormon», das sie zuwendungsfähig, empfindsam und weich werden liess. Sie konnte ihren Blick nicht eine Sekunde abwenden von dem mit dunklen Haaren umrahmten Gesichtchen, konnte sich nicht satt riechen an der Haut des neuen Lebens. In diesen kostbaren Stunden knüpften Mutter und Kind ein Liebesband, das beide fortan trug.
Bindungserfahrung
Der erste Kontakt, im Jargon «Bonding» genannt, ist ein Schlüsselmoment. Bonding, die sensible Phase im Bindungsgeschehen direkt nach der Geburt, ist ein tragendes Element in der Entstehung der Bindung. Und diese ist für die gesunde Entwicklung eines Kindes entscheidend. «Die Bindung zu unseren primären Bezugspersonen wirkt sich auf das gesamte Verhalten und Lernvermögen im Kindesalter aus, und sie begleitet uns auch als erwachsene Personen», sagt Silvia von Büren, die mit ihrer Kollegin Cornelia Reichlin in Basel das ElternBabyZentrum leitet. Die verschiedenen Angebote der Institution, von der Geburtsvorbereitung über das «Basic Bonding» bis zur Eltern-Baby-Therapie, drehen sich um erste Bindungserfahrungen. Es sei ihr ein Herzensanliegen, sagt die langjährige Geburtsvorbereiterin und Körpertherapeutin von Büren, dass sich «Eltern und Kind auf einer tiefen emotionalen Ebene begegnen».
Wie bedeutsam die Bindung für Menschen ist, hat die Wissenschaft erst vor einigen Jahrzehnten herausgefunden. Es war der britische Arzt und Psychoanalytiker John Bowlby, der in den 1950er-Jahren das Bindungsverhalten als biologisches Programm eines Neugeborenen erstmals beschrieben hat. Der kanadischen Psychologin Mary Ainsworth, die mit Bowlby zusammenarbeitete, gelang es, die Theorie experimentell zu bestätigen. Von ihr stammt auch eine berühmte Versuchsanordnung, die sogenannte Fremde Situation (siehe Box), mit der sie verschiedene kindliche Bindungsstile identifizierte.
Die Stimme der Mutter
Was also ist Bindung? «Es ist ein Kontinuum», sagt Silvia von Büren, «das schon in der Schwangerschaft beginnt.» Im Mutterbauch entfaltet ein Ungeborenes seine Sinne und lernt die Stimme seiner Mutter, seiner Eltern kennen. Über den mütterlichen Hormonhaushalt, mit dem es biologisch eng verbunden ist, registriert es ihre Emotionen, seien es Vorfreude und Wohlbefinden, seien es Stress und Angst. Studien zur pränatalen Forschung haben gezeigt, dass ein Fötus solche Erfahrungen «verinnerlicht» – nicht kognitiv im Gehirn, sondern körperlich auf der Zellebene. Nach der Geburt sind Babys geborene Kontaktknüpfer. «Das Bindungsverhalten ist ein offenes System, das jedem Säugling in die Wiege gelegt ist», sagt Klaus Grossmann, der mit seiner Frau Karin Grossmann zu den Pionieren der Bindungsforschung in Europa zählt. Von Anfang an sucht das Baby den Schutz, die Wärme und die Zuwendung einer ihm innig vertrauten Person, später von mehreren Personen – also nicht nur der Mutter, zu ihr aber zuerst. Es prägt sich ihren Geruch ein, beurteilt ihre Blicke, ihre Wärme, den Klang ihrer Stimme. Die Mutter ist die Erste, die ihr weinendes Baby mit ihrem Gesicht, ihrer Stimme, mit der Milch aus ihrer Brust beruhigen kann. «Sie erteilt so den ersten Unterricht in Liebe und Sicherheit», schreiben die Grossmanns in ihrem Standardwerk «Die Nähe zu vertrauten Menschen fühlt sich gut an, und wenn negative Gefühle überhandnehmen, ist jemand da, der sie lindert.»
Bei sich selber sein
Diese elterliche Schlüsselkompetenz heisst im Jargon der Bindungstheorie «Feinfühligkeit». Ihre Voraussetzung, wie Silvia von Büren sagt, ist die elterliche «Selbstanbindung»: Erst wenn Eltern, zunächst vor allem die Mutter, «bei sich selbst ankommen», haben sie Zugang zu ihrer Intuition und somit zum Kind. «Eltern brauchen ein emotionales Verständnis für sich selbst, damit sie die Bedürfnisse ihres Kindes sicher wahrnehmen und ihr Baby liebevoll begleiten können», sagt Silvia von Büren. Das sei im Wesentlichen ein körperlich-emotionaler, kein kognitiver Prozess. «Nur im Kopf funktioniert das gar nicht.» Im ElternBabyZentrum betreuen Silvia von Büren und ihre Kollegin junge Eltern, denen diese «Selbstanbindung» abhandengekommen ist, aus welchen Gründen auch immer. Vielleicht, weil sie in der eigenen Kindheit negative Bindungserfahrungen gemacht haben, vielleicht, weil Schwangerschaft und Geburt schwierig und mit Problemen belastet gewesen sind. «Wir bohren nicht in der Vergangenheit», sagt Silvia von Büren, «sondern bemühen uns, die Eltern emotional im Jetzt zu stärken, damit sie ihr Baby besser verstehen, es in seiner Entwicklung begleiten und sich an ihm freuen.»
Der Vater als «sichere Basis»
Oft seien Eltern «ausser sich», wenn sie das Zentrum aufsuchen. Von Büren erzählt von einem Paar, das völlig verzweifelt war, weil ihr sechs Wochen altes Baby fast permanent schrie. Das Kind war per Kaiserschnitt zur Welt gekommen. Bei einem anderen Paar war die Schwangerschaft sehr belastet gewesen. Das Kind neigte in den ersten Lebenswochen zu Schreiattacken, als wäre in seinem Körper ein Schalter gekippt. Als Erstes versucht Silvia von Büren in solchen Situationen, die gestressten Eltern «herunterzuholen» und das Tempo zu drosseln. «Die Langsamkeit wird zum Leitprinzip mit dem Baby», sagt sie. Mithilfe einfacher körperorientierter Mittel wie Berührung, Massage und Atmung wird den Eltern geholfen, das eigene emotionale Geschehen klarer wahrzunehmen. Unterstützt von der Therapeutin, begleiten sie danach das Baby in seinem Weinen, «mit viel Verständnis für das Geschehene, liebevoll und mit einem offenen Herzen, worauf sich die Bindungsstörung regulieren kann und Eltern und Kind zurück in die Bindung finden.» Dieses «Rebonding», wie Silvia von Büren es nennt, ist ein sehr feierlicher, zutiefst emotionaler Moment, ein Zusammenschmelzen von Eltern und Kind, das in der Intimsphäre des Raums fast greifbar sei. Das Kaiserschnittbaby zum Beispiel habe danach eine Viertelstunde lang geplaudert und «seine Geschichte erzählt», entspannt in den Armen der Mutter liegend und mit Augenkontakt auch zum Vater. Das Baby mit den Schreiattacken sei ruhig geworden und habe zugehört, als die Mutter dem Kind von ihren sehr schwierigen «Aufs und Abs» in der Schwangerschaft berichtet habe.
Solche Beispiele von «Rebonding» zeigen auch, dass die Geburt eben nicht das alles entscheidende Ereignis ist, welches die Beziehung zu den Eltern fortan bestimmt. Anders als etwa Gänse sind Menschenkinder nicht auf ihre Mütter «geprägt», um ihnen nach der Geburt wie kleine Küken nachzufolgen. Bei Menschen ist die Geburt eine Erfahrung unter vielen, die Eltern und Kind über die Monate und Jahre machen. Es gebe «keine Mutterliebe auf den ersten Blick», schreibt der berühmte Zürcher Entwicklungspädiater Remo Largo in seinem Stan- dardwerk «Babyjahre».
Die Art der Prägung beim Menschen heisst «Sozialprägung», sie erfolgt sehr viel langsamer als bei Tieren und ist überdies vielfältiger. Schon im Lauf des ersten Lebensjahres ist ein Kind imstande, auch zu anderen Bezugspersonen Bindungen aufzubauen. Die wichtigste ist diejenige zum Vater, die sich nach Forschungsergebnissen der Grossmanns von derjenigen zur Mutter unterscheidet. Während die Mutter eher als «sicherer Hafen» dient, wo das Kind Trost und Zuflucht findet, agiert der Vater als «sichere Basis», von der aus das Kind seinem Hauptinteresse nachgehen kann: die Welt zu erkunden, zu spielen, etwas zu wagen, gehen zu lernen, mit Frust umzugehen usw. «Exploration» heisst dieses Verhalten, das für eine gesunde Entwicklung genauso erforderlich ist wie Schutz und Fürsorge.
Fürs Leben gut gebunden
Die Erfahrungen, die ein Kind in den ersten beiden Lebensjahren macht, sind prägend für den Rest seines Lebens. Diese Erkenntnis gewannen Klaus und Karin Grossmann unter anderem durch ihre Langzeitstudie, die einmalig ist im europäischen Raum: Von 1976 an begleitete das Forscherehepaar in Bielefeld und später in Regensburg rund 100 Kinder und deren Familien, um während über zwei Jahrzehnten das Bindungsverhalten ihrer Probanden zu studieren. Sie wollten herausfinden, ob zum Beispiel ein sicher gebundenes Kleinkind seine Sicherheit als erwachsene Person aufrechterhielt, ob sich eine unsichere Bindung später ausgleichen liess oder wie sich Bindungsqualität auf andere Lebensbereiche auswirkte, etwa die Trennung der Eltern. Die Quintessenz ihrer Forschungsergeb- nisse: Tragfähige Bindungen aufzubauen, ist für ein Kind auch später im Leben noch möglich, beispielsweise zu Lehr- und anderen Vertrauenspersonen. Doch die Beziehungserwartungen aus der frühen Kindheit trägt ein Kind mit sich, sie sind unauslöschlich in seinen Hirnstrukturen eingebrannt. Sicher gebundene Kinder entwickeln sich mit grosser Sicherheit zu glücklichen und psychisch gesunden Erwachsenen, die tragfähige Beziehungen einzugehen imstande sind. Und sicher gebundene Kinder haben als Erwachsene gute Chancen, selber einmal sichere Eltern zu werden.
Literatur und Links
- www.silvia-vonbueren.ch
- www.elternbabyzentrum.com
- Klaus und Karin Grossmann: Bindungen – das Gefüge psychischer Sicherheit.
- Klaus und Karin Grossmann (Hrsg): Bindung und menschliche Entwicklung. John Bowlby, Mary Ainsworth und die Grundlagen der Bindungstheorie.