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Opfer und Täter in einer Person
Ich beschäftige mich schon seit einiger Zeit journalistisch mit Mobbing. Das hat zum einen etwas damit zu tun, dass ein langhaariger, gelegentlich Kleider und Röcke tragender Junge (aka mein Sohn) – egal wie cool und schlagfertig er ist – damit unweigerlich Erfahrung macht und ich mich dementsprechend betroffen fühle. Zum anderen ist Mobbing eine der modernen grassierenden Seuchen unserer Zeit. Mit unzähligen Betroffenen bis hin zu Todesopfern. Es stimmt zwar, dass es dieses Phänomen schon viel länger gibt, und Mobbing früher eben einfach Triezen oder Hänseln hiess, aber insbesondere durch die Möglichkeiten der sozialen Medien hat die Problematik ganz neue Dimensionen bekommen. Die Schule wechseln reicht da nicht mehr, denn es ist das gleiche Internet, mit den gleichen Abwertungen in Sprache und Bild, das längst vor Ort ist und auf das zugegriffen wird. Die virtuellen Pranger werden nach getaner Arbeit heutzutage nicht mehr abgerissen, sie geraten lediglich in Vergessenheit und werden bei Bedarf einfach neu und grell beleuchtet. Die alten Beschämungen und Anfeindungen sind nur einen Klick entfernt. Und nur die Wenigsten verfügen über die Ressourcen, sie tatsächlich löschen zu lassen. Zumal diese Vorgehensweise wieder einmal den Opfern die Verantwortung zuschiebt (Sorg halt dafür, dass das aus dem Netz verschwindet!), anstatt Täterinnen und Täter dafür zur Rechenschaft zu ziehen. Also soll und muss es andere Wege geben, etwas gegen Mobbing zu unternehmen und dagegen vorzugehen. Ein Mittel der Wahl ist dabei, die Gesellschaft nach und nach zu einer toleranteren zu erziehen und für jeden und jede Respekt zu verlangen. Ein anderes, Menschen unmissverständlich klarzumachen, wie es sich anfühlt, gemobbt zu werden. Also nicht auf dem abstrakten «Wir wollen eine friedlichere und bessere Gesellschaft und sollten daher alle nett zueinander sein» zu verharren, sondern die Dinge beim Namen zu nennen. Vor über zwei Jahren hat der kanadische Dichter Shane Koyczan genau das getan – und zwar auf so poetische und eindringliche Art und Weise, dass bis heute über 16 Millionen Menschen das dazugehörige Video auf Youtube angeklickt haben.
Dieser Clip berührt die Menschen sehr direkt. Viele fühlten sich veranlasst, das Gedicht in eigenen Clips zu kommentieren. Die meisten dieser Stellungnahmen beinhalten Variationen des Satzanfanges «Ich als Mobbingopfer». «Ich als Mobbingopfer» kann verstehen/halte kaum aus/bin in Tränen/fühle mich verstanden. Ich habe nicht eine einzige Stellungnahme gefunden, in der der Satzanfang «Ich als Mobber» vorgekommen ist. Und sicher liegt das auch daran, dass niemand gerne eigene Verfehlungen bekennt. Aber es zeigt auch, warum dieser Seuche bislang nicht beizukommen ist. Denn wenn so viele Opfer von Mobbing geworden sind – wo sind dann die Täter? Wenn eine so überwältigende Zahl an Menschen von sich sagt «Das, genau das habe ich immer wieder ertragen müssen», wo sind dann diejenigen, die dafür verantwortlich sind?
Die Antwort auf diese Frage ist so einfach wie erschreckend: Unter denjenigen, die gemobbt werden, befinden sich auch die, die mobben. Zur Klarstellung: Ich will weder sagen, dass alle Opfer auch immer Täter sind und alle Täter auch immer Opfer. Aber es ist Kennzeichen dieses gruppen- und egokonstituierenden Phänomens, dass diejenigen, die darunter leiden, eben auch die sein können, die andere darunter leiden lassen.
Deshalb reichen Appelle für eine tolerantere Gesellschaft nicht. Und deshalb sind auch die Hinweise auf das Leid der Opfer leider nicht genug – so eloquent und bewegend sie auch sein mögen. Stattdessen müssen wir uns mit der unangenehmen Frage beschäftigen, warum Menschen mobben. Was empfinden sie dabei? Wieso schützt die eigene leidvolle Erfahrung als Opfer nicht davor, zum Täter zu werden. Was man erfährt, wenn man Mobber zu Wort kommen lässt, ist folgendes:
Mobbing fühlt sich gut und machtvoll an. Es kann ein Ventil für eigene Mobbingerfahrung sein, oder Boshaftigkeit oder einfach eine Beschäftigung gegen Langeweile. Es stärkt das Gruppengefühl oder das eigene Selbstvertrauen. Mobber sind nicht zu dumm, um zu verstehen, dass sie alle Menschen mit dem Respekt behandeln sollten, den sie sich für sich selbst wünschen. Sie tun es situativ oder systematisch einfach nicht. Sie werten ab, sie beschimpfen, sie sind zu unfassbaren Gemeinheiten fähig. So wie die meisten von uns. So wie ich. Mobbing hört nicht dort auf, wo es mir gelingt, andere davon abzuhalten, meinen Sohn herabzuwürdigen. Es hört dort nicht auf, weil es auch in mir einen Anfang hat oder hatte. Und solange ich, solange wir uns nicht damit beschäftigen, wie wir uns warum an wem schuldig gemacht haben, kann es nicht der Anfang vom Ende des Mobbings sein.
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Nils Pickert (1979), geboren in Ostberlin, nach dem Mauerfall mit einer waschechten Kreuzbergerin angebändelt. Gegenwärtig 4 Kinder: Emma (12), Emil (10), Theo (2½) und Maja (bald 1). Arbeitet als freier Journalist für diverse Medien und als Weltverbesserer bei dem Verein Pinkstinks, der sich unter anderem gegen Sexismus in der Werbung engagiert. Wurde von der «Weltwoche» mal als «maximal emanzipierter Mann» beleidigt, findet aber, dass ihm der Titel steht. Bloggt für «wir eltern» über Alltag mit Kindern, gleichberechtigtes Familienleben, neue Väter, Elternbeziehungen, Erziehungswahnsinn. Alle Blogg-Beiträge von Nils Pickert finden Sie hier.