Elternkolumne
«Corona machte mich mutiger»
Echt jetzt!? Nicht alle haben unter der Pandemie gelitten. Für Beni Frenkel, Journalist und Vater von drei Kindern, bedeutete Corona auch ein bisschen Balsam für die Seele.
Elternkolumne
Echt jetzt!? Nicht alle haben unter der Pandemie gelitten. Für Beni Frenkel, Journalist und Vater von drei Kindern, bedeutete Corona auch ein bisschen Balsam für die Seele.
Die Coronazeit hat mich als Vater von drei Kindern verändert. Ich stand im Monat März häufig am Fenster und schaute runter zum Spielplatz. Die Schaukel wehte im Wind, die Sitzbänke standen verwaist herum. Ich ging auf den Balkon und zählte nach. Der Vorrat an Salz, Konservenbüchsen und Mayonnaise reichte für zwei Jahre. Dann überprüfte ich die DVD-Sammlung: 43 Kinderfilme, 15 Thriller, 2 Pornos. Sollte das Internet zusammenbrechen, reichte unser Vorrat an Unterhaltung ebenfalls für mehrere Monate.
Mein ganzes Leben habe ich mich für dieses Szenarium vorbereitet: Was passiert, wenn unser ganzes Leben auf Familiengrösse zusammenschrumpft? Wenn niemand mehr da ist, ausser uns. Ich freute mich darauf.
Das Familienleben besteht für mich nämlich in erster Linie aus Problemen und Gefahren. Sobald die Wohnungstür ins Schloss fällt, fängt es an. Die schlimme Nachbarin hört alles, der alte Mann unten herrscht die Kinder an. Der Schulweg führt über zwei gefährliche Kreuzungen. Bei einer haben Fussgänger und Autofahrer gleichzeitig grün.
Eine Tochter hat keine Freunde. Ich leide jeden Tag mit ihr, wenn die grosse Pause beginnt. Hoffentlich spielt jemand mit ihr, hoffentlich wird sie nicht angerempelt. Zwischen 10.05 und 10.20 Uhr denke ich aber auch an den Jungen. Er spielt nicht so gut Fussball wie seine Kameraden. Muss er wieder eine Viertelstunde lang im Tor stehen?
Wenn die Kinder in der Klasse Vorträge halten müssen, schlafe ich vorher sehr schlecht. Ich erinnere mich an meine Zeit. Vorträge waren schlimmer als Zahnärzte. Das ist heute sicher nicht anders. Auch wenn die Kinder eine Prüfung haben, bereitet das mir Ängste. Mein Wunsch: Die Kinder sollen keine bessere Note als 5–6 bekommen («Streber!»), aber auch keine 3–4 kriegen («Heul!»).
Ich bin seit über 12 Jahren Vater. Aber leicht ist mir noch kein Tag erschienen. Ich verkrampfe mich immer. Früher dachte ich, dass ich mit den Jahren lockerer werde. So wie die anderen Väter in den Freibädern, die mit ihren Söhnen zur Insel 200 Meter vom Ufer schwimmen. Ich kaufe meinen lieber eine Glace.
Etwas Schlimmes ist in meiner Kindheit nicht vorgefallen. Das würde ja erklären, warum ich so bin, wie ich bin. Ich lag auch nie in der Notaufnahme. Ich war auch kein ängstliches Kind. Eher so eines, das in der Klasse weder gut noch schlecht auffiel. Meine Ex-Klassenkameraden grübeln wahrscheinlich, wenn sie das alte Klassenfoto angucken: «Wie hiess der schon wieder?»
Als das erste Kind auf die Welt gekommen ist, habe ich drei Erziehungsratgeber gelesen, nein eigentlich verschlungen. Die grossen gemeinsamen Nenner dieser Ratgeber waren Banalitäten wie, dass Kinder gefördert und gefordert werden sollen und: «Vertrauen Sie in die Stärke Ihres Kindes», «Fördern Sie die Resilienz!», «Haben Sie Mut, die Hand loszulassen.»
Aber diese ständige Ermahnung bewirkte bei mir das Gegenteil. Wenn ich die Hand loslasse, fällt das Kind ja auf den Boden, dachte ich mir. Dann versuchte ich es mit Humor. Ich begann lustige Erziehungsratgeber zu lesen. Interessanterweise alle von Männern geschrieben. Wenn ich die Bücher zusammenfassen muss, gelingt das in einem Satz: «Die Küche ist verdreckt, das Parkett im Eimer, aber wir hatten einen lustigen Tag.»
Unter Vätern traut sich niemand, seine ständigen Sorgen ums Kind aufzuzählen. Angst ist doch der Nachname von Frauen, Männer schleudern ihre Kinder um die Hüfte und dann in die Höhe. Machte ich nie. Ich hatte Angst, dass die dünnen Ärmchen kaputtgehen. Erst mit Corona bin ich wieder einer unter anderen. Ich sah Familienväter, die ihren Kindern Staubsaugerbeutel auf die Gesichter klebten
und sie drei Monate lang nicht ins Freie liessen.
Das mussten meine Kinder nicht erleiden. Ich merkte nämlich, dass Kinder wie Blumen eingehen, wenn sie nicht nach draussen gehen und Freiheit wagen. Ich weiss nicht, wie es anderen Familien in dieser Zeit erging. Für mich war die Coronazeit etwas Befreiendes und Beruhigendes.
Ich stand im Monat April häufig am Fenster und schaute runter zum Spielplatz. Auf der Schaukel sassen Kinder, auf den Sitzbänken lungerten die Halbstarken. Und auf der Wiese nebenan spielte mein Junge Fussball. Als Stürmer.