Herkunft
«Ich muss dir was erzählen»
Von Susanne Frömel
Zu allen gehören und doch zu niemandem: Wie es ist, mehrere Mütter zu haben und nicht zu wissen, welche die echte ist.
28. Juli 2008, Wildenbruch.
Es fing damit an, dass ich die Pfanne spülen wollte. An ihrem oberen Rand hatte sich ein Fettrand gebildet, die Art Fettrand, die man nicht bis zum nächsten Morgen liegen lassen konnte. Ich liess also heisses Wasser ein und bemerkte im gleichen Moment, wie meine Stiefmutter sich aus der Gruppe meiner Geschwister löste und sich dem Waschbecken näherte. «Jetzt ist es soweit», dachte ich, «jetzt sagt sie es dir und du wirst schrecklich heulen müssen.» Seit Wochen hatte sich mein Vater in Andeutungen ergangen. Meine Stiefmutter wolle mir etwas Wichtiges sagen, aber er könne mir keinen Tipp geben, es sei einfach zu privat. Ich rechnete damit, dass sie mir gestehen würde, eine tödliche Krankheit zu haben, dass sie nur noch wenige Tage zu leben hätte, etwas in der Art eben. Meine Hand krampfte sich um den Spülschwamm. «Ich muss dir etwas sagen», sagte meine Stiefmutter. Meine Stimme war kieksig und klein und versteckte sich irgendwo in meinem Hals: «Ja?»
«Wir kennen uns jetzt schon so lang», sagte sie. «Und ich möchte, dass du mein Kind wirst.» Ich verstand kein Wort und sagte es auch: «Häh?» Sie lächelte milde, als würde sie zu jemandem mit sehr wenig Verstand sprechen. «Susanne Frömel», sagte sie, «ich möchte dich bitten, mein Adoptivkind zu werden.» Als ich also meine dritte Mutter bekam, war ich 34 Jahre alt.
12. September 1979, Hauptbahnhof Regensburg.
Einer der seltsamsten Tage in meinem Leben war der, als ich zum Bahnhof ging, um meine zweite Mutter kennenzulernen. Es war Sommer und ich hatte gerade meinen ersten Zahn verloren. Ich hielt mich an der Hand der Frau fest, die ich Mama nannte; sie war seit Tagen mürrisch und teilnahmslos, wie immer, wenn etwas nicht in Ordnung war. Als wir am Bahnhof ankamen, stand meine Mutter schon da. Sie trug einen schwarzen Mantel und langes, dunkles Haar, sie sah ganz anders aus als die Mütter in der Reihenhaussiedlung, in der ich lebte. In der Hand hielt sie eine Baumwolltasche, aus der ein sehr grosser Teddybär ragte. Ich weiss noch, wie seltsam es mir vorkam, dass jemand einen derart riesigen Teddybären in eine so kleine Tasche stopfte. Erst später begriff ich, dass sie mit allem so umging, ihr ganzes Leben bestand aus in Tüten gestopfter Improvisation. Der Teddybär war sehr schön.
Es war nicht so, dass mir meine Eltern plötzlich eröffnet hätten, ich sei in Wahrheit adoptiert oder ein Findelkind oder etwas in der Art und dass nun der Zeitpunkt gekommen sei, mich mit meiner leiblichen Mutter zusammenzubringen. Sie drucksten herum. Sie stellten sich nicht sehr geschickt an. Sie sagten: «Eine Bekannte kommt bald, um dich kennenzulernen. » Ich wunderte mich. Kinder haben ein instinktives Gespür dafür, wann jemand lügt. «Wer?», fragte ich. «Warum?» Meine Pflegeeltern waren alt, schon über 50, und beide Kriegsflüchtlinge aus dem Sudetenland, jene Grosselterngeneration, die mit Essigessenz Salatsauce macht. Sie wussten rein gar nichts über Pädagogik, ahnten aber, dass die Wahrheit nicht gut für mich wäre. So oder so. Erst nach dem Treffen, als wir wieder zu Hause waren, versuchten sie mir zu erklären, was eben passiert war. Dass das meine Mutter gewesen sei. Die echte, die, die mich geboren hatte. Ich verstand kein Wort.
Vanilleeis für das Baby
Sie war gerade aus dem Gefängnis gekommen. Drogen, Dealerei, Beschaffungskriminalität, das ganze Programm hatte ihr ein Jahr eingebracht. Ich war ihr mit acht Monaten weggenommen worden, erst stundenweise, schliesslich ganz. Sie hatte mich, wenn sie mich mal gefüttert hatte, mit Vanilleeis vollgestopft. «Da ist doch auch Milch drin!», hatte sie meinen Pflegeeltern gesagt, als die mich das erste Mal sahen. Diese ganze Geschichte erfuhr ich aber erst Jahre später, als ich mit elf oder zwölf anfing, mich für die Umstände zu interessieren. In einer Kiste mit amtlichen Schreiben und Briefen fand ich die Eckdaten meiner Existenz.
Erst nahm mich die Mutter einer Junkiekollegin, die mich jedoch bald an eine Familie in der Nachbarschaft weitergab, weil ihr ein Baby zu viel wurde. Das Jugendamt gab seinen Segen. Diese Familie hatte schon zwei Kinder, ein 16-jähriges Mädchen und einen 19-jährigen Jungen, die bald meine Geschwister wurden. Der Vater war Elektroingenieur, die Mutter Hausfrau, nette, warme, ein bisschen spiessige Leute mit Gartenzwerg im Vorgarten. «Das ist unser Susannchen», sagten sie immer. Nie «unser Pflegekind». Ich sagte «Mama» und «Papa».
Als ich zwei war, arrangierte meine Pflegemutter einen Vaterschaftstest. Sie wollte die Herkunft klären. Es gab zwei Kandidaten. Der eine hatte einen Klumpfuss und war Hilfskellner, der andere war Medizinstudent. Der Medizinstudent gewann. Bis dahin hatte er nichts von mir gewusst. Er hatte ein einziges Mal mit meiner Mutter geschlafen, in einem Zelt auf einer Wiese im Salzburger Land. Sie waren beide 19. Er: Jungfrau. Sie: leicht angetrunken. Er habe im Zelt gelegen, erzählte er später, und in einem Buch geblättert. «Und dann kam deine Mutter und ist zudringlich geworden. » Zudringlich. Ich versuche mir manchmal vorzustellen, was in meiner Mutter vorgegangen sein muss, als sie entschied, mit diesem vollbärtigen, etwas strengen und irgendwie seltsamen Typen zu schlafen. Nur ein einziges Mal und anschliessend wieder weiterzumachen wie vorher. Sie sagte, sie nehme die Pille, aber das stimmte wohl nicht.
Jetzt stand sie hier. Ihre Bewährungshelferin hielt es für das Beste, wenn sie sich ein Ziel suchen würde, etwas, an das sie sich klammern konnte. Dieses Ziel war ich.
Ich hielt mich an meine Mama geklammert und streckte die freie Hand linkisch meiner Mutter entgegen. Wie man eben Menschen begrüsst, die man nicht kennt. Sie guckte enttäuscht, als hätte sie erwartet, dass ich ihr um den Hals fallen würde. Als würde unsere genetische Nähe genügen. Sie überreichte mir den Teddy. Der, mit dunkelbraunem Fell, hatte einen Knick im Rücken, die Füllung war ihm auf beiden Seiten in die Beine gesackt, als hätte ihm jemand mit einem herzhaften Griff das Rückgrat gebrochen. Noch heute macht er einen invaliden Eindruck, dabei ist er eigentlich gut in Form für einen so alten Bären. Zwei Wochen später kam die Frau wieder und wollte mich über das Wochenende ausleihen.
«Mama» war bereits besetzt
In der deutschen Rechtsprechung gilt bislang der Grundsatz, dass die leiblichen Eltern für das Kindeswohl das Beste seien. Man geht davon aus, weil das Kind zu niemandem eine tiefere Liebe spürt als zu den Menschen, mit denen es aufgewachsen ist. Aber kindliche Liebe ist irrational. Kinder lieben, weil sie hoffen, zurückgeliebt zu werden.
Der Sorgerechtsprozess fand ohne mich statt. Meine Pflegeeltern und mein Vater auf der einen Seite, meine Mutter und die Bewährungshelferin auf der anderen. Ich sei, sagte die, das wichtigste Instrument, um einen Rückfall zu verhindern. Das hat, so weit ich weiss, auch funktioniert. Dann sagte sie noch: «Ein Kind gehört zu seiner Mutter!» Das war der Satz, der alles entschied. Es hört sich so natürlich an. Nur dass meine Mutter nicht die war, die mich geboren hatte.
Danach sah ich meine Pflegeeltern für vier lange Jahre nicht mehr. Und als wir uns wiedersahen, war ich nicht mehr das Kind aus ihrer Erinnerung. Ich stand herum und wusste nicht recht, wie ich reagieren sollte. Meine Schwester weinte und umarmte mich. Ich schob sie weg, als sei sie mir lästig.
Dabei hatte ich diesen Augenblick jahrelang herbeigesehnt. Wie oft hatte ich gebrüllt: «Ich will zu meiner Mama!» Wie oft hatte meine Mutter dann zurückgerufen: «Aber ich bin doch deine Mama!» Und jetzt das. In meinem Leben war einfach kein Platz für sie gewesen. Alles, was mit dem Wort Mama zu tun hatte, war bereits besetzt. Mama, die mich abends ins Bett brachte und mir ein Lied vorsang. Die mir säuerlich schmeckenden Wurstsalat zum Abendbrot machte und das Frühstück fertig hatte, bevor sie mich morgens weckte. Die mir die Dinge der Welt erklärte, wieder und wieder, bis ich sie kapiert hatte.
Leben in der Kommune
In meinem neuen Leben war alles anders. Wir wohnten in einer Art Kommune in einer alten Villa im Bonner Botschaftsviertel, mit einer Menge Leute, die kamen und gingen, ohne dass ich mir ihre Namen hätte merken können. Hier brachte mich mal der eine, mal der andere ins Bett, und wenn ich Hunger hatte, wurde ich in die Küche geschickt. Irgendein Topf stand immer da.
Immer wieder forderte sie mich auf: «Sag doch mal Mama zu mir!» Aber ich konnte nicht. Vermied, wo ich konnte, sie direkt anzusprechen, ansonsten nannte ich sie beim Vornamen. Das fiel nicht weiter auf. In den späten 70er- und den frühen 80er-Jahren machten das viele so. Für sie war Elternschaft etwas, das mit Befruchtung begann und mit dem Tod endete. Nichts, wofür man sich sonderlich anstrengen musste. Für mich waren Eltern Leute, die mit mir Kekse buken, mich trösteten, wenn ich mich im Dunkeln fürchtete, oder mir erklärten, dass Popel nicht von alleine zu brennen beginnt, eine Sache, die mich viele Nächte um den Schlaf gebracht hat. Meiner leiblichen Mutter genügte es, dass wir eine gemeinsame Postadresse hatten.
«They fuck you up, your mum and dad», hat der Autor Philip Larkin einmal geschrieben. Was er damit wohl meinte: Du kommst aus der Kiste nicht mehr raus. Egal, was sie mit dir tun und wie sehr wir rebellieren, am Ende sind wir ihnen doch ähnlicher, als wir wollen. Kleine, dumme Sätze, die sich in den Alltag schleichen. Die Art, wie man mit Konflikten umgeht. Ob man sich anstrengt und bemüht ist oder schlaff und machohaft. Manchmal frage ich mich, was für ein Mensch ich geworden wäre, wenn man mich bei den Leuten gelassen hätte, die für mich Eltern waren. Vielleicht trüge ich heute Twinsets, schon möglich. Wahrscheinlich hielte ich Porzellanpuppen für schön und Keramikfrösche im Garten für geschmackvoll, vielleicht hätte ich eine Ausbildung zur Kindergärtnerin gemacht wie meine Pflegeschwester. Ganz sicher würde ich bayerisch reden. Vielleicht wäre ich weniger verletzbar, weniger schnell enttäuscht. Wäre schlanker. Hätte keinen Hang zu Tiefkühlkost und Konservenfutter, nur weil meine Mutter Kochen für alberne Zeitverschwendung hält.
Gleichzeitig bin ich dankbar, so spontan zu sein. Flexibel. Länger als ein, zwei Jahre haben wir ja nie an einem Ort gewohnt. Ich kann mich gut arrangieren mit neuen Situationen. Es gefällt mir, dass ich hochdeutsch spreche und nicht bayerisch. Dann wieder ärgere ich mich, wenn ich feststelle, wie ähnlich ich meiner Mutter bin. Manchmal ertappe ich mich bei einer Geste oder einem Satz und denke: «Das könnte jetzt auch sie gewesen sein.» Nah fühle ich mich ihr trotzdem nicht. Eher verantwortlich. Ich habe den Satz «Aber sie ist doch deine Mutter» im Stillen unzählige Male wiederholt.
Familie zurecht lügen
Es gibt kaum Fotos von mir als Kind. Auf den wenigen sehe ich fast immer unnatürlich aus, als seien die Bilder von einem Kindergartenfotografen angefertigt worden. Ich erinnere mich, dass ich irgendwann anfing zu lügen. Einfach, um Eltern zu haben wie jeder andere in einer Klasse auch. Die Unzuverlässigkeit meiner Mutter interpretierte ich in Spontanität um, ihre häufige Abwesenheit als untrüglichen Beweis für ihr Vertrauen in meine frühe Reife. Und niemand hatte so eine junge Mutter wie ich, es gab Momente, in denen ich stolz darauf war. Zumindest redete ich mir das ein. Etwa als ich auf dem Tisch einen Zettel fand: «Bin in Urlaub gefahren, hat sich so ergeben. Wenn du Geld brauchst, ruf Gudrun an.» Oder als ich nach der Schule ein paar Monate in Los Angeles lebte. Da kam sie mich besuchen, das Ticket hatte sie von dem Geld bezahlt, das ich noch von einem Job bekommen sollte. Ich hätte es gut gebrauchen können. «Aber wieso, so hast du doch auch etwas davon», sagte sie, als sie ankam. Dann verschwand sie für ein paar Tage zu Bekannten nach Long Beach. Das Nächste, was ich von ihr hörte, war: «Hast du am Samstag schon was vor? Ich heirate nämlich.»
Buch statt Skier vom Vater
Wir haben viel gestritten. Wenn ich sie wirklich besiegen wollte, dann brüllte ich: «Ich hasse dich!», oder verletzender noch: «Ich will zurück zu meinen Pflegeeltern!» Manchmal, wenn ich mich wirklich unglücklich fühlte, bettelte ich: «Schick mich zu meinem Vater!» Das war natürlich albern. Mein Vater und ich kannten uns nicht besonders gut, die unregelmässigen Besuche in den Schulferien hatten uns einander nicht nah genug gebracht. Für mich war er der, der mich aus meiner Misere nicht rausgeholt hatte. Der nicht genug gekämpft hatte. Der seinen drei anderen Kindern Skier zu Weihnachten schenkte und mir nur ein Buch und einen Pulli. Und was war ich für ihn? Vielleicht der Beweis, dass man immer, wirklich immer Kondome benutzen sollte. Dass ein einziger unbedachter Moment genügt, um dem Leben von vielen eine ganz neue Richtung zu geben. Inzwischen sind wir uns näher. Wir sind nach aussen Vater und Tochter, trotzdem kann ich nicht vergessen, was mir meine Mutter immer eingetrichtert hat: «Was willst du bei deinem Vater? Der will dich nicht.» Und meine Mutter? Die lebte ein paar Jahre in Namibia. Wir haben kaum noch Kontakt. Als sie einmal für drei Monate in Deutschland war, hat sie mich nicht angerufen. «War total im Stress», stand in ihrer SMS, «nächstes Mal melde ich mich.» Heute lebt sie in Norddeutschland. Wir sehen uns unregelmässig.
Bleiben noch meine Pflegeeltern. Es ist schwierig. Sie sind alt und mir fremd geworden, weil ich die entscheidenden Jahre nicht mit ihnen verbracht habe. Ich sage manchmal «Mama», weil ich weiss, dass es sie freut. «Papa» sage ich zu niemandem, ich nenne beide, auch meinen Vater, beim Vornamen. Wir sehen uns zwei Mal im Jahr: einen Tag auf dem Weg in den Urlaub, einen Tag auf dem Weg zum Weihnachtsfest im Haus meines Vaters. Die tiefe Liebe, die ich als Kind zweifellos empfunden haben muss, ist fort. Ich mag die beiden gern, aber ich vermisse sie nicht mehr.
So hätte es sein sollen
Seit ich selbst zwei Kinder habe, fällt mir auf, wie es hätte sein sollen. Was Eltern für ihre Kinder tun sollten. Ich tue vielleicht ein bisschen viel. Überkompensation nennt man das wohl, aber ich versuche, dieses Gluckenhafte in den Griff zu bekommen. Die Sache mit der Prägung ist heikel, ich möchte keine Muttersöhnchen heranziehen, die ein völlig gestörtes Verhältnis zu Frauen haben. Normal ist so schwierig. Ich sehe jetzt nur noch zwei Mal in der Nacht nach, ob die beiden noch atmen. Lasse sie ihre Kämpfe mit anderen alleine austragen. Bemühe mich, nichts zu sagen, was nach Manipulation klingt.
Juli 1993, Bonn
Am Abend des Abiturballs sassen an den Tischen meine Mitschüler mit ihren Vätern und Müttern. Selbst die, die geschieden waren, hockten nebeneinander. Mein Tisch dagegen sah aus, als sässe da ein Haufen Unbekannter, Füllmaterial für frei gelassene Stühle wie bei der Oscar-Verleihung. Mein Vater war gekommen, weigerte sich aber, neben meiner Mutter zu sitzen oder ihr auch nur die Hand zu schütteln. Meine Mutter hatte Angst, dass ihr jemand Vorwürfe machen könnte und blickte die ganze Zeit zu Boden. Meine Pflegeeltern waren nicht gekommen, weil sie die Anwesenheit meiner Mutter nicht ertragen konnten. So hatte ich mir Tante und Onkel meiner Freundin ausgeliehen, als Puffer. Ich selbst rannte zwischen den Parteien hin und her, zu allen gehörend und doch zu niemandem.