Erziehung / Bindung
Anfallende Ablösung 5
Die Zielgerade der Kindheit ist erreicht. Statt des freundlichen muckeligen Schätzchens, das immer so herzig geplaudert hat, sitzt jetzt im Kinderzimmer ein über weite Strecken übellauniges Wesen, das in einen Bildschirm starrt, wächst wie gedüngt, die Eltern «oberpeinlich» findet und ausser «Ich hab Hunger», «Du nervst» oder «Ich brauch Geld» wenig sagt. Nach gründlichem Taxieren der Mutter höchstens noch sowas wie: «Wenn ich du wäre, würde ich mir das Fett aus dem Bauch in den Busen spritzen lassen.»
Nicht umsonst gibt es unzählige, von Eltern geschriebene, lustige Bücher über die Pubertät. Schliesslich ist es besser zu lachen als zu weinen. Denn als Mutter oder Vater lästig zu werden, ist traurig. In den Augen des Kindes vom Idol zum doofsten Deppen auf Erden zu mutieren, ist traurig. Jemandem Ratschläge zu geben, der davon exakt das Gegenteil tut, um anschliessend auf die Nase zu fallen, ist so bitter wie als Beschützer zum Auslaufmodell zu werden. Könnte die für Eltern schmerzliche Phase nicht einfach wegfallen? Könnte die Raupe nicht gleich Schmetterling werden? Ganz ohne die Zeit als Puppe? Nein, könnte sie nicht. Auch in der Tierwelt existiert die Pubertät als drastische Ablöseperiode, in der das Jungtier voller Grössenwahn, schäumender Hormone, aber auch Mut seinen eigenen Weg sucht. Und findet. Ratten-Teenies balancieren über halsbrecherisch schmale Stege, die weder Rattenkind noch erwachsene Ratte je betreten würden. Pubertierende Seeotter riskieren ihren Pelz in unbekannten Gewässern und jugendliche Gazellen spielen mit ihrem Leben, indem sie vor Löwen häufig nicht weglaufen, sondern dem – vermutlich irritierten – Fressfeind geradewegs ins Auge blicken.
Die Biologie legt fest: das heranwachsende Wesen muss seine Kräfte und Möglichkeiten ausloten. Und die Eltern? Tun sich mit Loslassen schwerer denn je. Weil man doch noch so viel mitgeben will, weil es doch nicht hinzunehmen ist, dass das eigene Kind permanent pampige Antworten gibt, und weil es auch so weh tut, daran zu denken, dass das Kinderzimmer zwar bald ordentlich, aber leer sein wird. Was tun? «Sich als Eltern anpassen, das eigene Verhalten hinterfragen», empfiehlt Remo Largo in «Geo». Ruhig bleiben. Das Kind bestimmen lassen, wann es Hilfe will. Ratschläge unterdrücken, um keinen Trotz heraufzubeschwören, liebender Rückhalt bleiben. Kurz: zu einer Kreuzung aus einem buddhistischen Mönch der höchsten Erleuchtungsstufe und der heiligen Theresa werden. Geht nicht? Macht nichts. Genauso gut ist es nämlich auch eine Nummer kleiner. Am besten für Kinder und Jugendliche sei, wenn sie mit authentischen Menschen mit Schwächen und Fehlern aufwüchsen, sagt Jesper Juul im «Spiegel». Schlimm dagegen sei, wenn sie es stets mit Eltern-Schauspielern zu tun hätten. Denn «wer dauernd pädagogisch handelt, zieht den Nachwuchs zur Gefühlskälte heran. » Also: unpädagogisch wütend werden, vergnügt peinlich sein und Reibungsfläche bieten. Das Kind ärgert sich? Na und? Das tun die Eltern auch. Das hilft dabei, den jungen Erwachsenen ausfliegen zu lassen, sich ein wenig auf die neue Freiheit zu freuen und darauf, dass man dann endlich, wenn er zu Besuch kommt, auch mal den Satz anbringen kann, den man schon bei den eigenen Eltern gehasst hat: «Kind, hast du denn keinen Schal? Du wirst dich noch erkälten.»
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