
plainpicture
Essay / Kinderrechte
Lasst uns in Ruhe!
Von Nils Pickert
Ratgeber predigen, wie moderne Eltern zu erziehen haben. Unser Autor hat genug von der Besserwisserei. Er widmet sich lieber einem alten Pädagogen.
Über die Rechte von Kindern nachzudenken und sie als Anforderungen an Eltern zu formulieren, hat seit einiger Zeit Hochkonjunktur. Immer wenn man denkt, es nervt schon sehr, kommt von irgendwo noch ein Ratgeber her. Kinder sollten dürfen – Eltern müssten dafür tun beziehungsweise lassen: Überbehütung, Unterversorgung, Konsequenz, fürsorgliches Desinteresse, lückenlose Betreuung, Autorität, Gleichbehandlung. In dem undurchdringlichen Dschungel von «Wem tut wann was gut und was muss dafür getan werden» wird die Bereitschaft von Eltern, ihre Erziehungsmethoden zum Wohle ihrer Kinder in Frage zu stellen, gnadenlos ausgenutzt, verformt und schliesslich gebrochen. Irgendwann pfeffert man selbst den besten Erziehungsratgeber in die Ecke und bestellt die Elternzeitschrift ab, die einen seit Jahren begleitet. Nicht etwa, weil sie schlecht sind, sondern weil man es einfach nicht mehr aushalten kann. Diese ständige Geste der Besserwisserei. Diese permanenten Anforderungen. Dieses Rückversetzen in schlechte, autoritäre Kindheitsstrukturen: «Wenn ihr als Eltern nicht sehr bald dies und das tut, werden ganz schlimme Dinge passieren. » Es wird zu viel gefordert und zu wenig erzählt. Selbst die rühmlichen Ausnahmen unter den Ratgebern werden überspült von all den Neuerscheinungen, die mit unschöner Regelmässigkeit Schuldgefühle in die Kerbe des elterlichen Gewissens schlagen. Unter dem Vorwand, Eltern für die Verbesserung ihrer Erziehungsmethoden zu öffnen, spielt man mit ihren Urängsten und leistet absichtlich der Hysterie Vorschub, um sich einmischen und Erwachsenen wie Kindern allerlei Unfug verkaufen zu können, den niemand, wirklich niemand brauchen kann.
Weil mich das ganz persönlich zunehmend betrifft und nervt, ich aber zugleich selbst hier und an anderer Stelle für Eltern schreibe, Ratschläge erteile, auffordere, nerve, nörgele, besser weiss, werde ich es an dieser Stelle einmal anders machen. Ich werde mehr erzählen und weniger fordern. Ich werde Ihnen die drei Grundrechte des Kindes vorstellen, so wie sie der Pädagoge und Kinderbuchautor Janusz Korczak formuliert hat und Ihnen gestehen, warum ich sie zwar für essenziell wichtig halte, sie aber dennoch unentwegt breche. In seinem 1919 erschienenen Buch «Wie man ein Kind lieben soll» (Aaah! schon wieder so ein Imperativ – na, ich will ihm das ausnahmsweise nachsehen) sind dies die drei Grundrechte:
- Das Recht des Kindes auf seinen eigenen Tod.
- Das Recht des Kindes auf den heutigen Tag.
- Das Recht des Kindes, so zu sein wie es ist.
Gleich das erste Recht bringt mich an den Rand meiner Möglichkeiten. Es bedeutet nichts weniger, als dass man die Sterblichkeit des eigenen Kindes nicht nur anerkennen, sondern ihr auch Raum geben muss. Sie wissen schon: Auf Bäume klettern, allein über die Strasse gehen lassen. Messer, Schere, Gabel, Licht gehören also doch in Kinderhände? Mag ich gar nicht. Ich bin einer von denen: «Aus Furcht, der Tod könnte uns das Kind entreissen, entziehen wir es dem Leben; um seinen Tod zu verhindern, lassen wir es nicht richtig leben.» Deshalb habe ich mir eine Partnerin gesucht, die unseren gemeinsamen Kindern mit sehr viel Souveränität zu diesem Recht verhilft – während ich kurz woanders hingehe, um mich nicht schreiend an die Beine meiner Kinder zu klammern und zu brüllen: «Tut es nicht, das ist gefährlich! Verlasst mich nicht!»
Mit dem zweiten Recht habe ich weniger Schwierigkeiten, verbünde mich aber trotzdem gelegentlich mit anderen Erwachsenen, um es zu brechen: mit Erziehern, Lehrerinnen, Freundinnen und Verwandten. Denn was interessiert uns schon der heutige Tag der Kinder, wenn es ihr Leben zu planen gilt: Fähigkeiten, Hobbys, Beziehungen, Berufswahl, Einkommen, politische Ansichten, Enkelbeschaffungsmassnahmen. Das muss alles vorbereitet und in die Wege geleitet werden. Korczak weist darauf hin, dass wir das Kind «für dieses Morgen, das es weder versteht noch zu verstehen braucht, um viele Lebensjahre betrügen. » Aber der hat ja auch nie etwas von einem prekären Arbeitsmarkt gehört, oder?
Auch mit dem dritten Recht tue ich mich leichter als mit dem ersten, breche es aber doch immer wieder. In dem, was ich mir für meine Kinder wünsche, lehne ich zahlreiche Dinge ab: Mittelmässigkeit, Scheitern, Unleidlichkeit, Trauer, Unfreundlichkeit und derlei mehr. Das beginnt bei Kleinigkeiten. So kann ich mir Sätze wie: «Das ist doch kein Grund zu weinen!», meistens noch verkneifen, weil ich mich inzwischen eine halbe Sekunde vorher automatisch frage: Wer bin ich eigentlich, dass ich irgendwem vorzuschreiben versuche, wann er was zu fühlen hat – egal in welchem Verwandtschaftsverhältnis er oder sie zu mir steht? Andere Sätze rutschen mir häufiger heraus: «Gib dir mehr Mühe mit …», zum Beispiel und immer wieder «Sei doch nicht so …».
Es ist das Wissen um die Legitimität dieser Kinderrechte und die gleichzeitige Unmöglichkeit, sie vollständig zu verwirklichen, die mich und andere Väter und Mütter so anfällig für Elternratgeber macht – sowohl für gut gemachte als auch für hinterlistige Zeitgeistpamphlete. Aber bei aller nachvollziehbaren Ablehnung und Kritik an letzteren: Zumindest versetzen sie einen in die Lage, die Trotzreaktionen der eigenen Kinder auf gewisse Dinge nachvollziehen zu können, weil sie uns wie Eltern andauernd auffordern «doch nicht immer so zu sein». Und wir, wie unsere Kinder, irgendwann die Arme verschränken und finden: Lasst mich doch alle einfach in Ruhe.
Recht so.