Geschwister
15 Fakten über Geschwister
Geschwisterkonstellationen und Geschwisterbeziehungen prägen ein Leben lang. Und es gibt viele vermeintliche Gewissheiten, was das Thema angeht. Wir sind 15 Behauptungen über Geschwister auf den Grund gegangen und haben Überraschendes entdeckt.
Zwillinge verstehen sich ohne Worte, Einzelkinder sind Egoisten und zwei Jahre Altersabstand zwischen den Kindern ist ideal. Oder? Was Geschwister angeht, operiert man häufig mit Behauptungen, von denen man meint, sie seien wahr. Doch sind sie das wirklich? Wir haben zu 15 Behauptungen Fachliteratur konsultiert und Experten befragt. Hier die Erkenntnisse.
Zwillinge gebären ist vererbbar und wird eine Generation übersprungen.
Begrenzt richtig. Falsch ist die Aussage bei eineiigen Zwillingen.
Sie sind purer Zufall, eine Laune der Natur. Bei zweieiigen Zwillingen
ist eine familiäre Neigung zum doppelten Eisprung möglich
und vererbbar. Eine Frau, die selbst Zwilling ist oder in deren
Familie bereits Zwillinge vorkommen, bekommt mit höherer
Wahrscheinlichkeit auch Zwillinge. Ein Zwillings-Mann hingegen
hat auf die Ovulation seiner Partnerin keinen Einfluss, kann aber
die genetische Disposition an seine Tochter – die Enkelin seiner
Mutter – weitergeben. Also an die übernächste Generation.
Eineiige Zwillinge haben eine identische DNA.
Falsch. Die DNA ist nur zu 99,999 Prozent identisch. Bereits nach der Befruchtung beginnt das Erbgut, sich zu verändern. Auch später im Leben wird das epigenetische Muster durch persönliche Erfahrungen und Umweltfaktoren verändert. Bei einer Straftat oder einem Vaterschaftstest lässt sich heute klar feststellen, welcher der beiden Zwillinge der Täter beziehungsweise der Vater ist.
Eineiige Zwillinge haben einen identischen Fingerabdruck.
Falsch. Zwar haben sie grosse Ähnlichkeiten. Doch es gibt weltweit keine zwei Menschen mit identischem Fingerprint. Die sogenannte Papillarleisten-Konfiguration bildet sich bis zum vierten Embryonalmonat aus
Zwillinge können auch über Distanz den anderen Zwilling intuitiv spüren.
Falsch. «Das sagen Zwillinge oft so. Aber ob das stimmt, da habe ich so meine Zweifel», sagt Jürg Frick, Zürcher Psychologe und Buchautor, unter anderem von «Ich mag dich – du nervst mich». Dass eine telepathische Verbindung besteht, und der eine beispielsweise die Schmerzen des anderen trotz räumlicher Trennung spüren kann, konnte die Forschung bisher nicht wissenschaftlich erhärten und gehört ins Reich der Zwillingsmythen.
Der erstgeborene Zwilling ist dominanter.
Falsch. Ein Gemeinplatz erster Güte, der wissenschaftlich nicht bestätigt werden konnte. Ein Zusammenhang zwischen Geburtsfolge und Dominanz liegt laut Untersuchungen des Psychologen Hartmut Kasten von der Universität München unter fünf Prozent und ist somit statistisch nicht relevant. Wird Zwillingen aber ständig
gesagt, dass einer von ihnen älter und somit dominanter ist, beginnen sie, sich entsprechend zu verhalten.
Zwillinge lernen besser, wenn man sie in der Schule trennt.
Begrenzt richtig. Drei internationalen Studien zufolge ergab sich ein positiver Effekt nur bei Pärchen-Zwillingen (Mädchen und Jungen) in höheren Klassen. Bei jenen wurde die Sprachleistung beider Kinder besser. Bei jüngeren Zwillingen hingegen, besonders bei Eineiigen, sanken die Schulleistungen. Möglicherweise,
weil den Kindern durch die Trennung die gewohnte Sicherheit genommen wurde.
Zwillinge verstehen sich ohne Worte.
Richtig. «Das ist tatsächlich häufig so», sagt Jürg Frick. Zwillinge verstehen einander oft nur schon durch die Körpersprache. Schätzungsweise rund 50 Prozent aller Zwillinge entwickeln in ihrer frühen Kindheit zudem eine Geheimsprache, die sie nur unter sich sprechen. Eine einfach strukturierte, unreife Sprache, verbunden
mit viel Gestik und Mimik. Die Wissenschaft nennt es Kryptophasie oder auch Ideoglossie. Meist verliert sich diese Art der Kommunikation bis zum dritten Lebensjahr.
Jedes Kind wünscht sich ein Geschwister.
Begrenzt richtig. «In manchen Fällen ist das so, aber längst nicht in jedem», sagt Jürg Frick. Erstgeborene tun sich oft eher schwer mit dem Nachwuchs. Der Kinderpsychologe und Autor Marcel Rufo schreibt in «Geschwisterliebe – Geschwisterhass»: «Auch wenn Einzelkinder sagen, ich will ein Geschwister, dann
ist es nicht ihr Wunsch, sie reden nur den Eltern nach dem Mund.» Denn kein Kind sei glücklich, von einem Baby enttrohnt zu werden, das Spielzeug und schon gar nicht die Liebe der Eltern zu teilen. Das ist für ein zweijähriges Kind undenkbar.
Zwei Jahre Altersunterschied zwischen den Geschwistern ist ideal.
Falsch. Der Altersabstand von zwei Jahren galt gemeinhin als Klassiker. Doch Jürg Frick sagt: «Das ist ein Mythos. Jeder Altersabstand hat das Potenzial für Vor- und Nachteile.» Geschwisterforscher Hartmut Kasten hält drei bis vier Jahre zwar für vorteilhaft, denn dieser Abstand habe sich in der Praxis häufig als optimal erwiesen. Die Geschwister seien besonders gut ausgekommen und hätten nicht so oft rivalisiert. Doch der Altersunterschied sei nur einer von vielen Faktoren. «Nicht alle Charaktere passen gleich gut zueinander. Es liegt an den Eltern, dass Geschwister lernen, freundlich und respektvoll miteinander umzugehen», sagt Nadine
Messerli-Bürgy, Professorin für Psychologie an der Universität Freiburg.
Erstgeborene sind intelligenter.
Falsch. «Diese These wird gelegentlich behauptet und hat sich irgendwann festgesetzt, sie konnte aber nicht erhärtet werden», sagt Jürg Frick. Eine Langzeitstudie aus Schottland, die diesem Mythos nachgegangen ist, hat ergeben, dass die Erstgeborenen nicht per se schlauer geboren werden. Der Unterschied sei mit nur 1,5 Punkten verschwindend gering und daher nicht relevant. Nadine
Messerli-Bürgy sagt dazu: «Es liegt eher daran, dass Eltern sich beim Erstgeborenen noch mehr bemühen und auch die Zeit dazu haben, um dem Kind eine möglichst stimulierende Umgebung zu bieten. Also fördern sie das Kind mehr, als sie dies bei
allen weiteren Kindern tun können.»
Älteste Kinder übernehmen als Erwachsene oft Führungsrollen.
Begrenzt richtig. Älteste Kinder haben tatsächlich im Erwachsenenleben häufig einen leitenden Job. Immer wieder werden in diesem Zusammenhang amerikanische Präsidenten bemüht. Auch Angela Merkel ist eine Erstgeborene. Die ältesten Kinder
werden zwar schon früh zur Verantwortung für die jüngeren Geschwister und zu Vernunft angehalten und müssen sich mehr mit der Autorität der Eltern auseinandersetzen. Aber die Geschwisterforschung zeigt: Welche Persönlichkeit uns als Erwachsene auch immer auszeichnet, hängt kaum mit der Geburtenfolge zusammen. Zentrale Persönlichkeitseigenschaften wie Intro- oder Extraversion, emotionale Stabilität, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit hängen von einer Vielzahl von Faktoren ab wie etwa Herkunft, Erfahrungen, zwischenmenschliche Beziehungen,
sozialer Status und Umgebung.
Einzelkinder sind unsozialer.
Falsch. Die sozialen Fähigkeiten bei Kindergartenkindern aus grossen Familien ist zwar besser entwickelt. Einzelkinder müssen vieles hier erst erlernen. Die Unterschiede jedoch verlieren sich mit dem Älterwerden wieder. Im Teenageralter haben Einzelkinder keine Nachteile mehr durch die Geschwisterlosigkeit.
Einzelkinder sind Egoisten.
Falsch. «Ausser sie werden zu sehr verwöhnt und vergöttert und zu Egoisten erzogen», so Jürg Frick.
Eltern von Einzelkindern trennen sich häufiger.
Begrenzt richtig. Diese Aussage stimmt, wenn sie sich auf eine kurze Ehedauer bis zur Scheidung bezieht. Gemäss Studien ist der Grund einer Trennung in den ersten vier Jahren häufig auf die Geburt eines Kindes zurückzuführen. Aufgrund der Schwierigkeiten zeugten die Eltern kein zweites Kind. Tatsache ist aber auch,
dass eine spätere Trennung mit drei oder mehr Kindern ökonomisch schwieriger weil teurer ist.
Geschwisterkinder sind glücklicher als Einzelkinder.
Falsch. Für das Gedeihen brauchen Kinder keine Geschwister. Mehr noch: «Sind die Beziehungen zwischen den Geschwistern von wenig Wärme und vielen Konflikten und Rivalität geprägt, dann kann dies zu einer hohen Belastung für ein Kind werden
und damit Geschwisterkinder unglücklich machen», so Nadine Messerli-Bürgy. Die bisherige Forschung bestätigt, dass geschwisterliches Mobbing, Rivalität, Konflikte aber auch das Bevorzugen eines Geschwisters durch die Eltern Geschwisterkinder sehr belasten und zu psychischen Problemen führen können.
Als Quereinsteigerin in den Journalismus schreibt Anita Zulauf erst für die «Berner Zeitung», die Migrationszeitung «Mix», nun bei «wir eltern» und als freie Journalistin bei dem Kulturmagazin «Ernst». Sie mag Porträts und Reportagen über Menschen-Leben und Themen zu Gesellschaft und Politik. Als Mutter von vier Kindern hat sie lernen müssen, dass nichts perfekt, aber vieles möglich ist.